Judaswiege: Thriller
Kopf durchgespielt, in tausend Varianten. Mit ihren Reaktionen und Gegenreaktionen. Wie ein Schachspiel hatte er den Verlauf dieses unausweichlichen Gesprächs vorab kalkuliert. Also, Klara, hier kommt mein Eröffnungszug.
»Es ging nicht nur um uns, Sissi«, sagte er leise.
Sie schwieg. Wie immer. Sam war versucht, sich eine weitere Zigarette anzuzünden. Er spielte mit der Packung, steckte sie aber wieder zurück. Dann drehte er das Feuerzeug zwischen den Fingern, schließlich blickte er zu ihr herüber. Sie beobachtete ihn immer noch. Natürlich.
»Denk an die anderen, Sissi. Wir hätten zwanzig gute Beamte mit in die Tiefe gerissen. Zwanzig Freunde und ihre Familien. Und der Ruf des FBI wäre auf Jahre dahingewesen, gerade im Hinblick auf Ermittlungen gegen hochrangige Politiker.«
»Sam«, unterbrach sie ihn flüsternd. »Ich bin nicht gekommen, um darüber zu reden, warum ihr mich den Hyänen zum Fraß vorgeworfen habt.«
Er sah sie fragend an.
»Ich möchte wissen, warum zum Teufel ihr die anderen Fotos geheimhaltet, Sam.«
Sam schluckte und dachte an den Vorfall von heute Mittag. Konnte das wahr sein? Nein, unmöglich, dafür war sie viel zu professionell.
»Warum, Sam? Herrgott, sie ist noch ein Mädchen. Oder willst du mir weismachen, dass sie noch leben könnte?«
Sam zuckte mit den Achseln.
»Die Bilder sind vier Jahre alt, Sam. Vier Jahre. Und sie war schon bei den Aufnahmen halb tot.«
—
Am nächsten Morgen rannte Sam durch strömenden Regen über den Parkplatz der FBI-Academy in Quantico und fluchte. Fünfzehn Minuten zu spät für die Abteilungsbesprechung, und ausgerechnet heute hatte sich ihr Chef angekündigt, um über die »Swell-Problematik« zu sprechen. »Natürlich, es musste ja heute sein«, murmelte Sam, als er die Drehtür erreichte.
Vor der Sicherheitsschleuse schüttelte er die dicken Regentropfen von seinem Mantel und betrat das Gebäude durch eines der vielen Drehkreuze, nachdem er es mit seinem Ausweis freigeschaltet hatte. Er hatte keine Zeit, in seinem Büro vorbeizuschauen, und so zog er aus einem der staubigen Automaten, die auf jedem Stockwerk herumstanden, einen Plastikbecher mit grässlicher brauner Brühe. Im Laufen nahm er einen Schluck, das Getränk war glühend heiß, und er verbrannte sich die Lippe. Mit der Zunge betastete er das Ausmaß der Katastrophe. Sie fühlte sich taub und wulstig an, obwohl Sam wusste, dass sie es gar nicht war. Mist. Seine Akten unter dem linken Arm und den Becher in der rechten Hand, öffnete er die Tür zum Besprechungsraum mit der Hüfte, was ihn beinah die zweite Verbrennung des Tages, in diesem Fall an seiner Hand, gekostet hätte.
Sie waren alle schon da: der schmächtige Wesley, die dicke Anne mit ihrer noch dickrandigeren Brille, sein Stellvertreter Bennet und ihr Chef: Gil Marin, der oberste Serienmörderjäger und bekannteste Profiler des Landes. Letzterer saß auf dem Tisch statt auf dem Stuhl und sah ihn tadelnd an: »Sam, einen schönen guten Morgen.« Beißende Ironie, dachte Sam und nickte ihm zu. Hätte er etwas von dem Stau gemurmelt, den es tatsächlich gegeben hatte: »Jeder weiß, dass der Beltway morgens dicht ist, oder seit wann arbeiten Sie hier, Sam?« Vielleicht die Ausrede mit den Kindern? »Sagen Sie, Sam, glauben Sie, jemand, der seine Blagen nicht organisieren kann, könnte mit einer Ermittlungsabteilung dieser Größenordnung überfordert sein? Brauchen Sie Entlastung, Sam?« Nein danke. Außerdem wohnten seine beiden Töchter nicht einmal bei ihm. Been there, seen that, got the T-Shirt, ärgerte sich Sam und suchte stattdessen schweigend einen Platz zwischen seinen Mitarbeitern. Er hielt nicht viel von inszenierter Hierarchie. Entweder sie stellte sich auf natürliche Weise ein; oder eine Sitzordnung würde sie garantiert auch nicht herbeiführen.
»Sie wollten mit uns über Klara Swell reden?«, ergriff Sam die Initiative, bevor Marin noch irgendetwas Abfälliges über sein Zuspätkommen einfallen konnte.
»In der Tat, Sam, in der Tat«, entgegnete Marin. »Wenn ich recht informiert bin, soll Miss Swell wieder auf freiem Fuß sein, ist das korrekt?«
Sam grinste innerlich. Nicht nur das, mein lieber Marin. Nicht nur das. »In der Tat, sie wurde vor nicht ganz einem Monat entlassen.«
»Etwas früh, finden Sie nicht? Sie hatte doch noch mindestens zwei Jahre Bewährung, oder nicht?«
»Sagen wir es so, Sir: Sie hatte prominenten Beistand.« Wie viel wusste dieser Mistkerl wirklich? Marin war
Weitere Kostenlose Bücher