Judaswiege: Thriller
ihr nicht verdenken.
»Ich treffe heute Abend Sam Burke, den leitenden Ermittler. Sagen Sie Stein, ich werde versuchen, wieder ins Spiel zu kommen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Klara auf und ging zur Tür.
»Und sagen Sie ihm«, bemerkte sie mit der Klinke in der Hand, »dass ich ihn und seine Kniffe vielleicht brauche, wenn dabei etwas schiefgeht.«
—
Um neun Uhr abends betrat Klara die No-Name-Bar, eine Nachbarschaftskneipe im East Village. Von außen verriet kein Schild ihre Existenz, zudem lag sie von der Straße leicht erhöht in einer Art Zwischenstockwerk, zu dem man eine kleine Treppe hinaufsteigen musste. Fremde oder gar Touristen verirrten sich so gut wie nie in das kleine Lokal ohne Namen. Hier hatten sie und Sam sich immer getroffen, wenn sie nach der Arbeit noch etwas trinken gingen, um zu reden. Früher war das öfter der Fall gewesen, erinnerte sich Klara. Aber früher hieß heute vor über fünf Jahren.
Der niedrige dunkle Gastraum war einfach, das Bier billig und die Gäste mit sich selbst beschäftigt. Man kannte sich oder ging sich aus dem Weg, Hauptsache, es gab etwas zu trinken und die Musik war laut genug. Klara drückte sich in die Ecke der Bar direkt am Fenster und musste feststellen, dass sie wirklich schon lange aus dem Geschäft war. Den jungen Blonden, der das Bier zapfte, hatte sie noch nie gesehen. In New York ändert sich sogar das, was sich nicht ändern sollte, stellte Klara fest und bestellte zwei Stella Artois. Bevor ihr der unrasierte Barkeeper das Pint hinstellte, wischte er die hölzerne Theke mit einem karierten Tuch. Immerhin etwas, dachte Klara, als sie den ersten Schluck trank. Eiskalt. Nein, kälter, das Glas war feucht von kondensierter Luft. Sie wischte die Feuchtigkeit an ihrer Jeans ab, als Sam die Bar betrat.
Er sah aus wie immer und strich sich seine dunklen Haare aus dem Gesicht. Eine typische Geste. Als er sich neben ihr auf den Barhocker setzte, spürte sie eine Welle von Vertrautheit. Sie drückte den Rücken durch, ihre Lederjacke knarzte in der Pause zwischen zwei Rockballaden. Sam nahm das Bier und prostete ihr zu: »Danke fürs Bestellen, Klara. Wie ich sehe, besteht Hoffnung.«
»Hoffnung für was, Sam?«, fragte Klara. »Es ist nur ein Bier, okay?«
»Okay«, murrte Sam und starrte in sein Glas.
»Weswegen wolltest du mit mir reden, Sam?«
Sam zögerte eine Weile, bevor er ihr antwortete: »Ich soll dir auf den Zahn fühlen, Sissi.«
»Von wem kommt das? Perkins?«
»Nein, von Marin höchstselbst.«
»Welche Ehre«, bemerkte Klara ironisch. »Quid pro quo?«, fragte Klara nach ihrem üblichen Spiel. Jeder eine Frage, die der andere wahrheitsgemäß beantworten musste, bis einer von ihnen aussteigen wollte. Sam und sie hatten festgestellt, dass es unter ihnen beiden die fairste Form des Umgangs war. Anfangs hatten sie sich ständig gegenseitig belauert und so wertvolle Zeit vergeudet. Mit Quid pro quo bekamen beide, was sie wollten, ohne zu viel preiszugeben. Ein fairer Deal.
»Natürlich«, stimmte Sam zu. »Aber ich fange an.«
Klara machte eine großzügige Geste und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Frage eins«, legte Sam los. »Hat sich Thibault Stein wegen Jessica von Bingen um deine Freilassung bemüht?«
»Ja«, antwortete Klara nüchtern und kam ohne Umschweife zur Sache. »Wie überzeugt ist dein Team von der Serienmördertheorie?«
»Wir halten es für möglich …«
Klara sah in seinen Augen, dass er log oder etwas Wichtiges verschwieg, und warf ihm über den Rand des Bierglases hinweg einen dunklen Blick zu. Sam schaute weg.
»… oder sogar für wahrscheinlich. Hast du das zweite Bilderset mit eigenen Augen gesehen?«
»Ist das deine zweite Frage, Sam?«
Er schüttelte den Kopf: »Frage zwei lautet: Ermittelst du in unserem Fall, Sissi? Gesetzt den Fall, es gäbe einen solchen Fall überhaupt …«
»Seit etwa vier Sekunden lautet die Antwort: Ja.«
Sam setzte an, um etwas zu erwidern, aber Klara legte sanft den Zeigefinger auf seinen Mund: »Hast du die Regeln vergessen, Sam?« Er schüttelte den Kopf. »Frage zwei: Warum haltet ihr die Fotos derart unter Verschluss, dass ich es nicht einmal über Wesleys Account abrufen konnte?«
Klara wusste, dass sie einen Treffer gelandet hatte, denn Sam zögerte. Er nahm einen Schluck Bier und schien mit sich zu ringen. Die zweite Regel ihres Quid-pro-quo-Spiels lautete unbedingte Ehrlichkeit. Sie war sehr gespannt, ob sich Sam gegen seinen Vorgesetzten und für
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