Judaswiege: Thriller
sie, und das ist auch gut so. Sie war gespannt, wo Vittorio sie heute Abend noch hinführen würde, schließlich hatte der O-Store in der Szene einen königlichen Ruf zu verteidigen. Behauptete zumindest Vittorio. Für Virginia war diese spezielle Partyszene Neuland. Unheimlich anziehend und gefährlich zugleich. Die ganze Atmosphäre erinnerte sie an einen Film, dessen Titel ihr entfallen war. Er spielte auf einem Schloss, die Herren erschienen in Abendgarderobe, die Damen in nichts. Sollte das hier auch auf eine Sexorgie hinauslaufen? Nein, entschied sie. In so etwas hätte sie Vittorio niemals unwissentlich hineinstolpern lassen. Die Neugier siegte, obwohl sie sich sicher war, dass die Veranstalter dieser exklusiven Party den Film auch gesehen hatten. Alles ist dazu da, einmal ausprobiert zu werden, oder nicht? Sie beschloss, sich einfach treiben zu lassen.
»Du siehst wirklich umwerfend aus. Wollen wir reingehen?«, fragte sie Vittorio, seine Gesichtszüge wirkten im schummrigen Licht der Kerzen weicher als sonst.
Virginia nickte. Vittorio schob einen dunklen Samtvorhang zur Seite, und als Virginia mit leicht zittrigen Knien den großen Raum betrat, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.
K APITEL 16
August 2011
National Center for the Analysis of Violent Crimes (NCAVC), Quantico, Virginia
Als Klara an einem Montagmorgen über den Parkplatz des NCAVC kurvte, um eine freie Lücke zu finden, fühlte es sich an wie früher. Was die morgendliche Parkplatzknappheit anging, schienen alle FBI-Büros der gleichen Fehlplanung zu unterliegen. Hunderte von Mitarbeitern kämpften um die Plätze wie bei der Reise nach Jerusalem um den letzten unbesetzten Stuhl, und der Campus in Quantico machte da keine Ausnahme. Nachdem sie eine Viertelstunde im Kreis gefahren war, stellte sie sich so eng wie möglich an den Rand einer regulären Parkreihe. Sie werden hier doch wohl kaum Politessen haben, vermutete Klara, als sie mit der Fernbedienung den Wagen abschloss und sich auf den Fußmarsch Richtung Hauptgebäude machte. Ihre Gedanken hingen noch immer an den schrecklichen Bildern aus dem Bighorn Nationalpark von letzter Woche. Wie war es dem Mörder gelungen, keine DNA-Spuren zu hinterlassen?, fragte sie sich, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Männerschritte. Sie drehte sich um und erkannte einen früheren Kollegen aus dem New Yorker Büro, der mit hüpfendem Bauch und wehender Krawatte versuchte, sie einzuholen. Auf halbem Weg hatte er sie endlich erreicht und blieb keuchend neben ihr stehen.
»Hallo, Sissi, hab schon gehört, dass du zurück bist.« Er hatte Schweißtropfen auf der Stirn, und seine Glatze schimmerte in der Morgensonne wie eine polierte Bowlingkugel.
Klara nickte. »Hi, Clarence. Schön, dich zu sehen«, log Klara. Der Fettwanst war einer der übelsten Speichellecker und Fähnchen-im-Wind, die das gesamte FBI zu bieten hatte.
»Sissi, hör mal, es tut mir wirklich leid, was damals passiert ist.«
Sissi ignorierte ihn und setzte sich wieder in Bewegung. Doch Clarence gab nicht auf, er heftete sich an ihre Fersen. »Ich bin jetzt bei der nationalen Sitte, wenn du mal etwas brauchst …«, er zwinkerte ekelhaft wissend dazu, »… dann ruf mich an, okay?« Er hielt ihr im Laufen seine Visitenkarte hin. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, nahm Klara die Karte und steckte sie in die Brusttasche ihrer Lederjacke: »Okay, Clarence. Wir sehen uns.«
Sichtlich erleichtert blieb Clarence auf dem Parkplatz zurück. Wer weiß?, dachte Klara. Vielleicht können wir dich ja tatsächlich noch einmal brauchen. Wenn sie es auch bezweifelte. Trotzdem freute sie sich darüber, dass sie zumindest noch erkannt wurde, und sei es auch nur von einem der Speichellecker. Wo es dich gibt, finden sich auch noch ein paar andere, sinnierte Klara, die wusste, dass viele ihrer ehemaligen Kollegen in Quantico gelandet waren. Sie hatte gerade das Drehkreuz zum Sicherheitsbereich passiert, als ihr die gesamte Entourage ihres Ermittlerteams entgegenkam, Sam Burke an der Spitze.
»Was ist los, Sam?«, fragte Klara irritiert. »Haben wir eine weitere Leiche?«
»Nein, Sissi. Wir ziehen um. Komm mit«, forderte sie Sam auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass Wesley, Anne und Bennet große Kartons unter den Armen hatten. Sie machte kehrt und passierte zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden die Drehkreuze – diesmal in umgekehrter Richtung. Sam marschierte vorneweg, als gelte es, die Trainingsvorgabe für den
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