Judaswiege: Thriller
weit bist du damit?«, fragte Klara, die von Minute zu Minute nervöser zu werden schien. Wahrscheinlich hat sie Angst vor der eigenen Courage, vermutete Pia.
»Bitte, Klara, nicht schon wieder. Natürlich habe ich daran gedacht, der Tracer läuft längst. Moment, er ist wieder da.«
[whisper to Thunder]: Hast du das Video angeschaut?
[whisper to Judas_Iscariot]: Noch nicht. Soll ich?
[whisper to Thunder]: Ja.
Wesley startete das Video, das Judas ihnen mit dem Chat-Client geschickt hatte. Pia erstarrte. Es war eines der Gopher-Tapes, eine Sequenz aus der Ermordung des letzten Opfers. Und es war Material, das sie bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Bei der momentanen Popularität würden sich neue Sequenzen binnen Minuten im Internet verbreiten, die sozialen Netze waren schneller als jeder Nachrichtenkanal. Pia schluckte. Sie chatteten mit einem Serienmörder. An den Gesichtern der anderen konnte sie ablesen, dass sie mit ihrer Meinung nicht alleine war.
»Schalt es ab, Wesley«, forderte Klara.
»Nein«, entgegnete der Kollege. »Vielleicht merkt er das, entweder weil wir zu früh wieder online sind, oder weil er irgendeinen Code mitgeschickt hat. Wir müssen da durch.«
Pia drehte sich weg, sie hatte nicht die Absicht, sich jemals wieder einen dieser Filme anzusehen. Der Hüne Adam warf ihr einen aufmunternden Blick zu, als hätte er gespürt, wie sehr sie die Filme mitnahmen. Was gäbe sie dafür, wenn Adrian jetzt bei ihr sein könnte … Als die dreiminütige Sequenz zu Ende gelaufen war, wechselte Wesley zurück in den Chat:
[whisper to Judas_Iscariot]: Fertig.
[whisper to Thunder]: Und?
[whisper to Judas_Iscariot]: Wie, und?
[whisper to Thunder]: Was hast du gefühlt?
[whisper to Judas_Iscariot]: Ich fand es …
Mitten im Satz hörte Wesley auf zu tippen. Was sollte er darauf auch antworten?, fragte sich Pia. Was war die richtige Antwort für einen mehrfachen Mörder auf diese Frage? Wesley musste sich entscheiden. Er tippte ein weiteres Wort und drückte die Return-Taste.
[whisper to Judas_Iscariot]: Ich fand es scharf.
Plötzlich ebbte der Antwortstrom ab. Während sie vorher alle paar Sekunden hin- und hergeschrieben hatten, kam jetzt auf einmal gar nichts mehr. Sie warteten zehn Sekunden, zwanzig, dreißig. Dann sprach Wesley aus, was sie alle schon wussten.
»Wir haben ihn verloren, glaube ich. Ich habe einen Fehler gemacht.«
Er startete einen letzten Versuch, Judas_Iscariot zurückzuholen:
[whisper to Judas_Iscariot]: Was ist los?
[whisper to Thunder]: Du bist ein Fake, sonst nichts. Bye.
»Das war’s, schätze ich.«
»Lass gut sein, Wesley«, pflichtete ihm Klara bei. »Wir haben, was wir brauchen. Er ist unser Mann, und er hat ab heute einen Namen. Jetzt kriegen wir ihn. Was macht der Trace?«
»Ich habe eine Stadt, mehr nicht, aber das hatte ich euch ja schon angekündigt.«
»Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Fähnrich«, mahnte Klara. »Wo ist er?«
»Irgendwo im Großraum Chicago.«
K APITEL 24
Oktober 2011
Washington D.C.
Beim Aufwachen stieß sich Sam Burke den Kopf an der Nachttischlampe, die er wohl vergessen hatte auszuschalten, und es roch ein klein wenig nach verbrannten Haaren, als er ungläubig auf seinen Wecker schaute: 5:24 Uhr. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er versuchte, die Hosenbeine seines Anzugs glattzustreichen, während er das Büro zurückrief.
»Was gibt’s, Wesley?«
Sam gab enttäuscht auf und pfefferte die Hose in die Ecke für die Schmutzwäsche. Im selben Augenblick erstarrte er und richtete sich auf.
»Ihr habt was …?«, fragte er entgeistert. »Das ist nicht dein Ernst, Fähnrich.« Nein, natürlich war es nicht sein Ernst. Aber dafür Klaras. Typisch, schimpfte er und trat vor den Schrank, in dem noch neun weitere Anzughosen desselben Typs hingen. Nachdem ihm der Kollege die ganze Geschichte erzählt hatte, packte er drei davon in eine lederne Reisetasche, dazu fünf Hemden, zwei Krawatten und zwei Paar Schuhe auf Leisten. Er hasste es, zwei Tage hintereinander dieselben Schuhe tragen zu müssen. Als er zwei Minuten später den Startknopf der Kaffeemaschine drückte, hatte er das Handy noch immer am Ohr.
»Gut, Wesley. Trommel alle zusammen, ich möchte das gesamte Team in einer Dreiviertelstunde im Büro sehen, und zwar vollzählig«, knurrte er in den Hörer und legte auf, bevor der Jungspund etwas erwidern konnte.
Da er schon fertig gepackt hatte, putzte er Schuhe, bis der Kaffee fertig war,
Weitere Kostenlose Bücher