Judaswiege: Thriller
die Beine lässig übereinander.
»Also, was haben wir?«, fragte er, als könne er durch schiere Präsenz das Kommando übernehmen. Sam wusste es dennoch besser, als offen zu rebellieren. Er musste ihm ein paar Brocken hinwerfen.
»Wir wissen, dass er heute Nacht in Chicago war, vielleicht dort sein nächstes Opfer sucht. Wir werden alle verfügbaren Kräfte mobilisieren und parallel versuchen, seinen Standort über den Forenchat weiter zu verfolgen. Sobald wir ausreichend vorbereitet sind, schlagen wir zu.« Sam verschwieg dabei große Teile seines Schlachtplans, denn er wusste, dass Marin als Politiker einfache Pläne liebte, die jedoch nie funktionierten. Er erwähnte weder seine Vermutung, dass ihr Täter mittlerweile einen Komplizen hatte, noch erzählte er von der psychologischen Falle, die er ihm mit Wesleys Hilfe stellen wollte.
Marin nickte: »Das klingt doch schon einmal ganz vernünftig, Burke. Ich kümmere mich um die Mobilisierung der Einheiten in Chicago. Werd denen mal ein bisschen Druck machen.«
Sam stöhnte innerlich auf. Da war er wieder, der politische FBI-Vorgesetzte, der sich immer genau so weit einmischte, dass er Lorbeeren einheimsen konnte, aber bei einem Fehlschlag niemals verantwortlich wäre. Sam verabscheute diese Beamten mit ihren einfachen Plänen und ihrer Schwarz-Weiß-Sicht, die niemals zu ordentlichen Ergebnissen führte. Er lächelte: »Das wäre uns eine große Hilfe.«
»Dann will ich Sie mal nicht weiter aufhalten. Machen Sie weiter, und holen Sie uns den Kerl, ja?« Marin schwang sich vom Tisch und klopfte auf die Holzplatte. Beim Rausgehen warf er noch einmal einen etwas zu langen, finsteren Blick Richtung Klara Swell.
Frustriert biss Sam in den zweiten Donut des Tages und erklärte seinem Team, wie sie vorgehen würden: »Bennet, du übernimmst die Leitung des Teams hier in der Zentrale. Wir brauchen ab jetzt jede Vermisstenmeldung, die in Chicago eingeht, auf unserem Schreibtisch, und ich will binnen fünf Minuten nach Eingang des Anrufs eine entsprechende Datei auf meinem Handy. Mein Vorschlag wäre, diese Aufgabe Anne anzuvertrauen, aber die Entscheidung liegt bei dir. Zweitens möchte ich versuchen, dass Wesley als ›Thunder‹ den Kontakt zu unserem Täter hält, wenn möglich sogar noch etwas intensiviert. Überzeugt ihn, dass ›Thunder‹ kein Fake ist. Wenn es uns gelingt, wird ihn der direkte Kontakt irgendwann verraten. Dieses Forum ist die Heimat seiner Online-Persönlichkeit, sein Zuhause. Und dieser Teil seiner Psyche ist ebenso real wie die anderen beiden. Versucht, alles über ihn herauszukriegen: Wie oft ist er online, was schreibt er, wie oft überprüft er die Foren, wie süchtig ist er nach Updates? Und wenn ihr euch einigermaßen sicher fühlt, zu wissen, was er braucht, dann sprecht ihn noch einmal an. Wir bleiben in Kontakt, ich werde mir die Sachen genau anschauen und euch dann eine Empfehlung geben, wie wir ihn ködern können.«
»Und womit genau sollen wir ihn ködern?«, fragte Bennet.
»Wenn ich euren Chat gestern und die Foreneinträge, die ich bis jetzt studieren konnte, richtig interpretiere, dann pflegt er zu einigen Leuten aus dem Forum eine Art ›Lehrer-Schüler‹-Verhältnis. Hier könnte er anfällig sein. Er ist überzeugt, einen kontrollierten Umgang mit seinen Neigungen gefunden zu haben, er glaubt, er hat es im Griff. Vielleicht sucht er nur dafür Anerkennung, vielleicht glaubt er, seinen virtuellen Freunden damit zu helfen, das weiß ich noch nicht. Aber es passt auch dazu, dass er die Videos macht und sie über das Forum zur Verfügung stellt. Ich bin überzeugt, dass sie genauso verbreitet wurden: über persönliche Nachrichten und zunächst gar nicht gezielt. Erst die Filesharing-Netze haben die Dateien massenweise im Internet verteilt. Sucht nach dem Schlüssel zu seinem Vertrauen. Falls wir ihn in Chicago nicht schnappen, ist das vielleicht der einzige Weg, um noch einmal an ihn heranzukommen.«
Wesley machte eifrig Notizen auf den Bildschirmen, während Bennet mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl saß. »Mir gefällt dein Plan nicht«, sagte er schließlich und rieb sich die Nase. »Aber ich weiß leider noch nicht, warum. Du fliegst nach Chicago?«
Sam nickte: »Ja, ach, und Klara. Du fliegst auch direkt weiter, Anne kann dir einen Flug buchen.«
Klara blickte ihn spöttisch an: »Ach ja? Sam, Sam, Sam, wie lange kennen wir uns jetzt?«
Sam schaute auf. Sie hielt eine Bordkarte mit dem Ziel Chicago
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