Judith McNaught
sie mehr als nur ihren eigenen Namen und den Namen ihres
Verlobten vergessen hatte. Oder vielleicht hatte man ihr auch, wie vielen
wohlerzogenen englischen Mädchen, nie gesagt, was in der Hochzeitsnacht
eigentlich vor sich ging. Sie zog ihre rötlichen Augenbrauen über fragenden
grauen Augen zusammen und bestätigte diese Vermutung: »Ich weiß nicht, was Sie
meinen, oder was genau Sie im Sinn haben, aber wenn ich Ihnen Unbehagen
bereite, ist das kein Wunder. Ich sitze praktisch auf Ihrem Schoß.«
»Wir werden meine Motive und das,
was ich meine, später erörtern«, versprach er ihr. Seine Stimme war ganz rauh
über das Vergnügen, das sie ihm bereitete, als sie sich von seinem Schoß wand.
»Wann
werden wir darüber reden?« beharrte sie eigensinnig, als sie ihm schließlich
wieder gegenüber saß. »Sonntagabend.«
Da sie nicht die Kraft aufbrachte,
weiter mit ihm zu streiten, und auch nicht seinem herausfordernden Blick
begegnen wollte, lüpfte Sherry den Vorhang am Seitenfenster und blickte hinaus.
Zwei Dinge trafen sie wie ein Schlag: Zum einen standen sie vor einem Haus,
auf dessen Eingangstreppe auf jeder Stufe Lakaien standen, die Fackeln in den
Händen hielten, um die Trauben prächtig gewandeter Gäste zu begrüßen, die in
einem beständigen Strom hineinfluteten, wobei sie neugierige Blicke zurück auf
die Tür der Kutsche warfen. Aber schlimmer noch: Wenn das Spiegelbild im
Fenster der Kutsche sie auch nur halbwegs korrekt widerspiegelte, dann war
Sherrys raffinierte Frisur den marodierenden Fingern ihres Verlobten zum Opfer
gefallen. »Meine Haare«, flüsterte sie entsetzt, griff sich an den Kopf und
stellte fest, daß ihre Locken ihr wirklich über die Schultern hingen, in, wie
Stephen insgeheim fand, entzückender kunstloser Unordnung. Als sie jedoch ihre
Aufmerksamkeit auf ihre Haare richtete, setzte sofort seine übliche Phantasie
ein, und er stellte sich vor, wie sich diese Locken über seine bloße Brust
ringelten. »Ich kann nicht hineingehen, so wie ich aussehe. Die Leute werden
denken ...« Ihre Stimme erstarb in verlegenem Schweigen. Stephen verzog die
Lippen.
»Was werden sie denken?« hakte er
nach. Und während er ihre geröteten Wangen und ihre rosigen Lippen betrachtete,
war ihm verdammt klar, daß zumindest einige von ihnen das Richtige vermuten
würden.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte sie
schulterzuckend. Sie zog die Haarnadeln aus der leuchtenden Pracht und ließ sie
über die Schultern fallen.
Sherry fuhr mit dem Kamm durch ihre
Haare, wobei sie sich in steigendem Maße dessen bewußt wurde, daß er jeder ihrer
Bewegungen mit liebevollen Blicken folgte, was nur noch zu ihrer Verwirrung
beitrug. »Sehen Sie mich bitte nicht so an«, stammelte sie.
»Sie anzusehen war eine meiner
Lieblingsbeschäftigungen von dem Moment an, in dem Sie mich gebeten haben,
Ihnen Ihr Gesicht zu beschreiben«, erwiderte er ernst und blickte ihr direkt in
die Augen.
Die samtene Rauhheit seiner Stimme
und seine erstaunlichen Worte wirkten verführerischer als jeder Kuß. Sherry
spürte, wie all ihr Widerstand gegen eine Heirat mit ihm zu schwinden begann,
aber ihr Stolz und ihr Herz verlangten, daß sie ihm mehr bedeuten müsse, als er
ihr bisher gezeigt hatte. »Bevor Sie weiter über eine Hochzeit am Sonntag nachdenken«,
sagte sie zögernd, »sollten Sie wissen, daß ich eine wunderliche Abneigung gegenüber
etwas hege, das englische Ladies nicht im mindesten zu stören scheint. Ich habe
erst heute abend entdeckt, wie stark diese Abneigung ist.«
Verblüfft antwortete Stephen: »Gegen
was hegen Sie eine solche Abneigung?«
»Gegen Lavendelfarbe.«
»Ich verstehe.« Stephen war erstaunt
über ihre Kühnheit und unwillkürlich beeindruckt von ihrem Mut.
»Denken Sie bitte sehr sorgfältig
darüber nach, bevor Sie entscheiden, ob wir noch weiter verlobt bleiben
sollen.«
»Das werde ich tun«, erwiderte er.
Er hatte nicht so reagiert, wie sie
gehofft hatte, aber zumindest war er nicht ärgerlich, und er hatte sie ernst
genommen. Sherry gab sich damit zufrieden und versuchte, ihre Haare noch etwas
mehr in Ordnung zu bringen. Unter seinem bewundernden Blick sagte sie unsicher
mit einem hilflosen Lächeln: »Ich kann das nicht, wenn Sie mir dabei zusehen.«
Vierunddreißigstes Kapitel
Widerstrebend wandte Stephen seinen Blick ab,
aber als sie dann mit ihm an der Brüstung entlangging und die Stufen in den
überfüllten Ballsaal der Rutherfords hinuntertrat, hingen alle Blicke an ihr.
Sie
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