Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
habe ich damals auf dem Marktplatz miterlebt, der Redner war Dr. Konrad Adenauer. Als er geendet hatte, stieg er in einen schwarzen Mercedes, fuhr langsam an und (er saß natürlich hinten) warf viele kleine Tafeln Schokolade für uns Kinder aus dem Wagenfenster …
Sie schreiben von der ehemaligen Lehrerin, die noch so rüstig ist mit 83 Jahren, und die dort im Kloster-Stift lebt. In eben diesem Kloster sind wir oft, in der Woche, in der Kirche, der kleinen, gewesen, ein Traum aus Marmor und Gold … Des Sonntags sind wir ja jedesmal in der großen katholischen Stadtkirche (an der Hauptstrasse) gewesen, ich habe immer geschaut, ob Frau Prim, unsere Klassenlehrerin, auch dort war, sie war jedesmal dabei. Der Organist, der damalige, hatte ein Lieblings-Kirchenlied, welches auch meines war: «Christi Mutter stand mit Schmerzen …»
Der Organist hatte aber auch einen kleinen Sohn, der in meiner (Ihrer!) Schulklasse war, hellblond, Brille, zarte Figur, fast zerbrechlich, und genauso schüchtern wie ich. Ein Junge also, der sich entweder durchbeißt oder am Leben zerbricht. Was ist aus ihm geworden? …
Noch ein anderer Junge war in unserer Klasse. Ein kleiner, viel zu kleiner, Zwerg mit Männerstimme, der von allen verachtet und gequält wurde. Ein häßlicher, kleiner, armer Mensch. Einmal packte ihn eine verzweifelte Wut und er schlug dem Klassenprimus mit einer Flasche ein Loch in den Kopf, nachdem dieser ihn gehänselt hatte. Es gab am nächsten Tag großes Hallo in der Schule und viele Kinder waren aufgebracht, daß Sie zu dem armen Rumpelstilzchen hielten. Ich weiß seinen Namen nicht mehr, aber Sie wissen genau, wen ich meine, Sie wissen auch, wie ich, das dies Kind von seinen Mitmenschen derart gequält worden ist, das ihm ein «normales», ehrliches Leben wohl kaum später möglich gewesen sein dürfte. Und jeden, der da behauptet, dieser Junge trüge alleine die Schuld daran, bezeichne ich als Lügner und Pharisäer. So das es heute, spricht man von diesem Menschen, wohl kaum die Frage sein darf, ob er ein «guter oder ein schlechter Mensch» geworden sei. Die Frage darf allenfalls sein, in welchem Zuchthaus er denn nun sitze …
Schöne Lieder lernten wir bei Ihnen, liebe Frau Prim, wir sangen von «Heidelbeer’n» und «Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten …» AuchMathematik lernten wir bei Ihnen, ich weiß noch, wie Sie die Kontrolle beim substrahieren erklärten:
35
–17
_____
7
und
18
_____
8
gleich
15
[ein Pfeil
verbindet diese 15 mit der obigen 35]
Leider muß ich Ihnen aber gestehen, das ich über die Grundrechenarten niemals hinausgekommen bin, «Dreisatz», «Bruchrechnen», «Kürzen», «Raum + Körperlehre», das waren und sind für mich böhmische Dörfer. Sie schütteln den Kopf? Ich muß es genauer sagen: Bei den INTELLIGENZ-TESTS die mit mir gemacht worden sind, hat sich herausgestellt, das ich zwar etwas über dem Durchschnitt intelligent bin. Aber: auf einem, abgegrenzten, speziellen Gebiet fehlt mir jede «Begabung», stehe ich an der «Grenze zum Schwachsinn», wie der Psychiater sich ausdrückte: auf dem Gebiet der Mathematik! Wie gesagt, nur auf diesem Gebiet. Das deprimiert mich doch etwas, wirklich. Darum haue ich auch jeden an, den ich kennenlerne, ob er mir nicht «dies oder jenes» beibringen kann auf mathematischem Gebiet.
Gerade vor einer Woche hat mir ein neuer Gutachter (für den neuen Prozeß) gezeigt, wie man Prozente von hundert errechnet. Auch das habe ich nie richtig gekonnt. Aber richtig kann ich auch das noch nicht, weil ich nicht weiß, wie man Prozente über hunderter rechnet. Na ja, vielleicht gebe ich es besser auf. Wenn das «Talent» sogar fehlt … Aber es ist ein wenig zum Weinen, wissen Sie, man kommt sich so dumm vor.
Meine Eltern haben Ihnen in letzter Zeit leider nicht schreiben können, weil sie vor Arbeit im Geschäft bald nicht mehr aus den Augen schauen können und sie sind ja auch nicht mehr jung!
Wenn Sie, liebe Frau Prim, mir später irgendwann vielleicht nochmals schreiben möchten, dann schreiben Sie ruhig nach (4) D.-dorf, Ulmenstrasse 95, J.-V.-A. Hier in Colonia bin ich nämlich nur zur Begutachtung für den neuen Prozeß. Und sagen Sie,wenn Sie möchten, ruhig «Du» zu mir, wie Sie es auch früher gesagt haben.
Ich will hoffen, das es nicht ausgerechnet diese beigelegte Karte ist, welche ich Ihnen vor einigen Wochen sandte. Auf der heutigen Karte
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