Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
sondern als besorgter Freund besuchen dürfte. Das bedeutete auch, daß mir mein berufliches Verhalten im Laufe der Zeit das Vertrauen der Justizbehörden gewonnen hatte.]
Düsseldorf, 2/3 Februar 1971
… Es ist auch richtig unsinnig, wenn Sie so schreiben, als wüßten Sie nicht, daß ich mich ganz aufrichtig toll freuen würde, wenn Sie mich, vielleicht im Februar schon, besuchen würden.
Aber in einem Punkt muß ich Sie wohl enttäuschen: ich glaube nicht, daß mehr als eine halbe Stunde genehmigt wird. Bei jemandem, der noch nicht in Straf-Haft ist, habe ich es noch nicht anders gehört. Nicht, daß es mich nicht freuen würde … aber ich will Ihnen nur eben keine falschen Hoffnungen machen.
In den letzten Jahren vor meiner Verhaftung, wenn meine Eltern sonntags wegfuhren, bin ich alle zwei oder drei Wochen mitgefahren. Vorher mußte ich immer mitfahren, später bestanden sie darauf, daß ich mindestens ab und zu mitfuhr. Wenn ich nicht mitfuhr, war ich häufig mit meinem Freund Viktor zusammen. Wir sind in der Gegend herumspaziert. Oder ich bin allein auf Suche nach Jungs gegangen. Manchmal wartete Viktor auf mich, dann konnte ich nicht auf die Suche gehen. Aber manchmal, auch wenn er auf mich wartete, ist es so stark über mich gekommen, da bin ich manchmal trotzdem gegangen, ich bin Viktor einfach aus dem Wege gegangen. Das ist manchmal so furchtbar stark gewesen, dieser Drang! Es war nicht immer gleich stark. Einen Tag war es weg, an einem anderen Tag war es so, daß ich es beherrschen konnte, und am nächsten Tag war es vielleicht so, daß ich überhaupt nicht anders konnte.
Das Fotografieren habe ich einmal ein paar Wochen als kleiner Junge getrieben. Das habe ich auch wieder während meiner innigen Freundschaft mit Viktor in Langenberg getrieben, um ihn, den Geliebten, nun da immer auf dem Bild vor mir haben zu können. Nachdem diese innige Freundschaft so zerbrochen und kaputtgegangen war, bin ich mit dem Fotoapparat an möglichst alle Stellen gegangen, wo wir zusammengewesen waren. Wir sind viel durch den Wald spazieren gegangen, haben da Zigaretten geraucht oder sind durch den Bach gestapft. An einem Steinbruch sind wir gewesen, so ein Hochsitz war auch da. Diese ganze Gegend, wo ich mit dem Jungen gewesen war, habe ich Platz für Platz abfotografiert und die Fotos zu Hause gut verwahrt.
Nun möchte ich aber Ihre Fragen beantworten, lieber old Friend:
Meine Eltern haben NIEMALS Urlaub gemacht. Meine Mutter hat einmal für höchstens eine Woche Urlaub gemacht, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Sie hat mich mitgenommen zum Halterner See, wo wir in einem alten Bauernhaus schliefen, und tagsüber spazierengingen. Sie ist mit mir auf dem Halterner See Boot gefahren (Dampfer) und hat mir ein kleines blaues Bötchen mit weißem Segel für die Badewanne gekauft. Diese paar Tage waren vielleicht die schönsten, die einzigen schönen in meinem Leben, weil meine Mutter sich, aus dem Trott und Wahnsinn der Hektik heraus, tatsächlich für die kurze Zeit (und nur diese Zeit) sich lieb mit mir beschäftigt hat.
Meine Tante hat den Eindruck, ich möchte nicht gern in eine Heilanstalt? Ich möchte schon in eine Heilanstalt, aber ich habe auch Angst davor. Die Gefängnisse sind heute von Mäusen und Ratten befreit; bei den Heilanstalten ist das oft noch nicht der Fall. Unsere Heilanstalten sind teils älter als unsere Gefängnisse, und daher auch teilweise ungepflegter, ja oft sollen sie in einem geradezu menschenunwürdigen Zustand sein. Im «Spiegel» habe ich gelesen, daß die Neuen jeder erst einmal splitternackt in einen Gitterkäfig gesteckt werden, daß die Wärter (angeblich) oft grundlos Insassen bis zur Bewußtlosigkeit prügeln würden, daßPost an Rechtsanwälte meist festgehalten wurde, ja daß sogar («Spiegel») manche Wärter den Insassen die Hälfte des Essens wegessen. Und da fragen Sie, warum ich eventuell nicht gern in eine Heilanstalt möchte …
«Es ist allgemein bekannt, daß Homosexuelle große Angst vor körperlicher Gewalt haben», weiß ein «Stern»-Roman. So soll es denn sein, wenn es schon geschrieben steht. Aber zwischen «Angst vor Gewalt» und Wehrlosigkeit besteht immerhin ein Unterschied. Und ich bin der Ansicht, daß ich im Leben genug geschlagen und getreten worden bin. Wenn die Schauergeschichten, die über unsere Heilanstalten in Umlauf sind, der Wahrheit entsprechen, also wenn das zutrifft, dann bin ich im Notfall sogar bereit, um
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