Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
jemanden finden. Hatte ich mal jemanden, wurde ich nur ausgenutzt. Ich suchte immer Liebe, Wärme, und fand sie nicht. Zu Hause? Sicher, Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie sehr mich meine Eltern liebten und lieben. Aber, und das müßten Sie auch wissen, ich merkte nichts davon, zu spüren war da nichts. Also suchte ich diese Wärme, diese Geborgenheit darin, wenigstens einen Freund zu finden. Und suchte vergebens.
Sicher, auch ich habe später, als es gar nicht klappen wollte, viel falsch gemacht. Hatte ich mal kurz jemanden, beanspruchte ich ihn ganz für mich. Aber woher? Weil ich mich mit der Kraft der Verzweiflung an diesen einen klammerte, denn kein anderer Klassenkamerad wollte etwas mit mir zu tun haben. Zum Schluß kam, unausbleiblich, die Resignation: «Dich will ja niemand haben!» Und, es ist zwar nicht bewußt, doch halte ich es für möglich, daß sich die Liebe, die aufrichtige Zuneigung, die ich immer, mein ganzes Leben lang, für Schulkameraden empfand, innerlich, und von mir nicht direkt bemerkt, in das genaue Gegenteil verwandelte. Ersparen Sie mir das Wort!
Also nicht nur sexuell? Nein, vielleicht nicht nur. So kann es gewesen sein, so vermute ich es nach vielem Nachdenken. Ja, ich habe sie sehr geliebt, die Kinder, die damals meine Kameraden waren. Und ich liebe auch heute noch Kinder sehr. Denn das, das Furchtbare, was geschehen ist, und das können Sie mir glauben, das kam nicht von meiner Seele. Nein, aus der Seele nicht! Denn sie ist nicht mit mir groß geworden. Sie ist hübsch klein geblieben.
Die Mimose, dies empfindliche Ding, welkt, wenn keine Sonne sie bescheint, denn schließlich ist sie ja eine Mimose. Kann sie etwas dafür? Eine solche Blume konnte in meinem Elternhaus nicht wachsen.
Und es nagt und nagt immer weiter an dieser kleinen Seele, die nie größer wird, weil die Liebe, die in ihr wohnte, niemals diejenigen erreichen konnte, denen sie, ach so lange schon, galt. Und wird diese Liebe nie, niemals Nahrung finden, so wird sie sterben, so muß sie sterben. Und dann stirbt auch die kleine Seele, die von Schmerzen verkümmerte Seele, weil die große und doch zärtliche Liebe, die in ihr wohnte, nie, niemals diejenigen erreichen konnte, denen sie galt.
Den Freunden, die es nicht gab;
Den Kameraden, die es nicht gab;
Den Kindern!
Gewiß, die vier Kinder sind tot, daran kann auch die kleine Seele nichts ändern. Sie würde es ja so gerne tun, zumal sie genau weiß, daß das Furchtbare nicht ihr Werk war. Denn sie war immer nur voll Liebe, voll zärtlicher, unerwiderter Liebe. Sie hat einen aussichtslosen Kampf gekämpft, von Anfang an. Sie hat nie aufgegeben, obwohl sie dazu Grund genug gehabt hätte. Und sie wird nie aufgeben, das Teuflische, nämlich die Krankheit, die in mir sitzt, zu bekämpfen. Doch wenn ihr dabei nicht ein ganz klein bißchen wenigstens unter die Arme gegriffen wird, steht sie auf verlorenen Posten. Doch aufgeben, nein, das wird sie nicht und das kann sie nicht, da sie ja nur aus dieser Liebe besteht. Doch hat sie ihren Kampf nicht schon verloren? Denndann ist sie zum Tode verurteilt, und niemand kann ihr mehr helfen.
Bitte, bitte, kann ihr denn wirklich niemand helfen?
***
Januar 1967
Ich war nicht in allem ein Feigling, und ein solcher wäre ich gewesen, hätte ich mein Leid irgend jemanden merken lassen. Mag sein, daß das falsch war, doch so dachte ich jedenfalls. Denn jeder Junge hat ja seinen Stolz, das wissen Sie sicher. Nein, ich habe nicht jedesmal geheult, wenn ich Prügel bezog, das fand ich «memmenhaft», und so war ich wenigstens in einem Punkt tapfer, nämlich, meinen Kummer niemand merken zu lassen. Aber jetzt mal ganz im Ernst, zu wem hätte ich denn gehen, wem mein Herz ausschütten sollen? Meinen Eltern? So gern wir sie haben, müssen wir doch mit Schrecken feststellen, daß sie in dieser Richtung nie, aber auch noch nie, auch nur ein Tausendstelgramm Sinn entwickeln konnten. Konnten sage ich, nicht haben, daran sehen Sie bitte meinen guten Willen! Und, was auch kein Vorwurf ist, sondern eine einfache Tatsache: Ich bin der ernsten Überzeugung, ja, habe es am eigenen Leib erfahren, daß meine Eltern niemals mit Kindern umgehen konnten.
Woher ich das so genau weiß? Weil ich meine Tante [Marthea] kenne, weil ich weiß, wie gut es gehen kann, wenn ein Mensch versteht, ein Kind zu führen, nicht nur zu rügen und zu schlagen und dann bei jeder Gelegenheit noch zu jammern, daß man doch noch «viel zu gut» sei und noch
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