Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
der Zeit, in welcher sie bei mir war, recht viele Freunde gehabt. Einen Lehrling J. in ihrer Firma («Ich merkte bald, daß er sich in mich verliebt hatte. Sein Humor war nur noch Galgenhumor») zum Beispiel. Als er sie nicht erringen konnte, griff er zum Rauschgift und landete in der Klinik. «Ich besuchte ihn dort und hielt seine Hand» . (anscheinend eine Lieblingsbeschäftigung von ihr). Und jetzt kennt sie seit einem halben Jahr einen Ungarn (mit französischem Vornamen, wenn man ihr glauben soll), mit dem sie jeden Abend bis zwölf Uhr auf seinem Zimmer verbringt, zumindest am Wochenende.
Für sie sei all das unbedingt nötig: «Ich halte es für unbedingt wichtig, so viele Menschen wie möglich kennenzulernen.» Freunde, sagt sie, sollen wir bleiben, und ab und zu, meint sie, solle sie mich besuchen. Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Neuerdings (ich habe das Gericht gebeten, jeden Besuch von ihr abzuweisen) bombardiert sie meine knorke Tante mit Telefonanrufen; anscheinend hat sie es sich wieder einmal anders überlegt.
Da kann sie auf mich lange warten, meint Dein oller, oft an dich denkender und auf Deinen baldigen langen Antwortbrief sich schon wahnsinnig freuender old Friend
Goochelaar [?] Jürgen Bartsch134
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[Im Herbst 1971 begann die Düsseldorfer Ärztin Margret Suhr-Effing, Jürgen einmal in der Woche für zwei Stunden im Gefängnis psychotherapeutisch zu behandeln. Während eines Aufenthaltes in Düsseldorf hatte Prof. Rasch die Psychoanalytikerin Melitta Mitscherlich um passende Namen gebeten, und sie hatte Frau Dr. Suhr-Effing empfohlen. So zufällig kam eine höchst überraschende Kombination zustande: seit ihrer Kindheit war Frau Suhr-Effing mit Jürgens Tante Marthea gut befreundet; auf Bittender Tante war sie es gewesen, die das Kinderheim in Rheinbach empfahl und das Aufklärungsbuch besorgte, das Jürgens Mutter ungeöffnet in den Ofen warf. Durch die Tante war Frau Suhr-Effing mit Jürgens Familienverhältnissen vertraut, aber glücklicherweise war sie vorher mit Jürgen nie in Berührung gekommen, denn das hätte die Wirkung ihrer psychotherapeutischen Behandlung behindert. Sie bezeichnete diese wöchentlichen Doppelstunden mit Jürgen als keine konventionelle Psychotherapie, sondern als «ichaufbauende Gespräche». Der folgende Brief erwähnt zum erstenmal die Arzthelferin Gisela, die im Laufe der Zeit eine einzigartige Rolle in Jürgens Leben übernehmen sollte.]
Düsseldorf, Oktober 1971
… Sehr froh bin ich, daß ich Frau Dr. Suhr-Effing als Ärztin habe. Sie kümmert sich wenigstens auch um meine Augen, die «zusehends» . (schön zynisch passend in diesem Zusammenhang) schlimmer werden. Sie hat sie auch selber untersucht und festgestellt, daß sie völlig blutunterlaufen sind und nicht mehr richtig bewegbar sind, was, wie sie meint, verteufelt nach «Druck» aussähe. Vor allem auch in Verbindung mit dem Ohrenknacken, das wiedergekehrt ist. Die Möglichkeit, daß selbst diese langsam nun doch ernst werdenden Beschwerden «nervöse» Ursache haben, müssen wir dabei immer offenlassen. Nun werde ich wahrscheinlich in der nächsten Woche zu einer Augenärztin kommen können, welche Frau Dr. Suhr-Effing selber persönlich kennt. Man macht sich ja immer auf’s neue Hoffnung, alter Freund. Aber im Grunde bin ich seit einem halben Jahr «neurotisch überzeugt», daß ich in einigen Monaten oder Jahren gar nichts mehr werde sehen können.
Und die eigentliche psychotherapeutische Behandlung? Frau Dr. Suhr-Effing meint, daß das eine Sache zwischen Arzt und Patient sei, daß man darüber, über die Themen, welche man gerade behandelt usw., eigentlich überhaupt nicht sprechen solle. Was meinst Du dazu? Das ist übrigens nicht speziell auf Dichgemünzt, alter Freund, sondern eher «allgemein» gemeint. Meine Mutter begreift das ja (natürlich) noch nicht. Sie versteht nicht, daß ihr kleiner Junge ihr nicht sofort alles weitergibt, «was Ihr Euch da so erzählt.» Selbst wenn man es täte, wäre es ja nicht sehr aufschlußreich. Wenn man einem «Außenstehenden» erzählt, daß man in solcher Sitzung im Grunde genommen oft über «Gott und die Welt» spricht, würde er wohl wenig damit anfangen können.
Du, lieber Paul, bist mein Haupt-Freund, und wirst es auch stets bleiben. Meine anderen, oft «unverbindlichen» Brieffreundschaften werde ich überprüfen müssen, und die meisten von ihnen ganz aufgeben. Es ist nur ganz wenigen wirklich die innere Kraft
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