Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
die anderen Gefangenen höchstwahrscheinlich überfallen und umbringen. Herr Hartmann könnte vielleicht zu ihm nach Düren fahren», sagte Rasch.
«Aber das», sagte ich, «würde für Herrn Hartmann zwei Stunden Fahrt für jede Therapiestunde bedeuten – wenn er überhaupt so viel Zeit erübrigen könnte. Und können Sie sich wirklich vorstellen, daß Jürgens Adoptiveltern das dreifache Honorar pro Therapiestunde bezahlen könnten oder würden?»
«Moor, Sie sind viel zu pessimistisch. Es muß doch einen Analytiker in solchen Städten wie Dortmund zum Beispiel geben.»
«Nicht laut dem Verzeichnis der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie, der Dachorganisation der drei führenden Gruppen – der Freudianer, der Schultz-Hencke-Neoanalytiker und der Jungianer.»
«Es gibt aber noch irgendeinen anderen solchen Verband», sagte Rasch. «Außerdem kann man nicht wissen, wen diese Leute in der nächsten Zeit ausbilden werden.»
«Aber wenn diese Krankheit organisch wäre, würden Sie den besten, erfahrensten Fachmann heranholen, den es überhaupt gäbe. So eine fast einmalig komplizierte, herausfordernde psychische Krankheit darf man einfach nicht irgendeinem unerfahrenenFeld-Wald-und-Wiesen-Therapeuten überlassen – auch wenn es den in der Nähe eines nordrhein-westfälischen Landeskrankenhauses gäbe. Bei der zurückgebliebenen Situation der Psychoanalyse und der psychoanalytisch orientierten, dynamischen Psychiatrie in Deutschland können Sie nicht einfach einen passenden Therapeuten irgendwo in der Nähe eines Landeskrankenhauses aus dem Boden stampfen.»
«Ich sage Ihnen, Sie sind viel zu pessimistisch.»
«Und ich sage Ihnen die schlichte Realität.»
«Herr Moor», sagte Rasch, geduldig und mit Betonung, «dies ist nicht das erste Mal in meinem Leben, wo ich vor einer schwierigen Aufgabe gestanden habe, und bisher habe ich immer eine Lösung gefunden. Ich werde auch diesmal eine Lösung finden.» Er lächelte breit und sagte freundlich: «Also das war’s. Der nächste Punkt?»
***
17 Briefe VIII
[Die psychische Spannung und Unentschiedenheit seiner Lage schlugen sich bei Jürgen somatisch nieder. Mittlerweile waren Frau Dr. Suhr-Effing, ihr Mann (auch Arzt) und ich Freunde geworden; ich war immer ihr Hausgast, wenn ich in Düsseldorf übernachtete. Jürgen hat Frau Suhr und mich von unserer beruflichen Schweigepflicht entbunden, damit wir wirkungsvoller miteinander zusammenarbeiten konnten. Seine psychische Übertragung auf mich, mit der ich am Anfang, in meiner Unerfahrenheit, nicht gerechnet hatte, erreichte in dieser Zeit ihren Gipfel: Er sagte Frau Suhr ausdrücklich, sie solle mir ausrichten, ich sei für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt geworden, sie stehe an zweiter Stelle, seine Tante in Neuß an Dritter.]
4 Düsseldorf, den 4. 2. 1972
Lieber guter alter Freund Paule!
… Hast Du gewußt, lieber Paule, daß am 21. 12. dieses Jahres Zweidrittel meiner Strafzeit herum sind? Tatsächlich. Wie die Zeit vergeht. Ob, wir dann einen Antrag stellen? Herr Bossi besuchte mich Montag, und sagte, er wolle den Antrag «auf alle Fälle» stellen. Ich halte es auch für sinnvoll, aber nur, wenn wir bis dahin (Prof. Dr. Rasch) EINE ANSTALT GEFUNDEN HABEN, WELCHE MICH AUCH BEHANDELN oder BEHANDELN LASSEN WILL. Nur ist da leider noch gar kein Land zu sehen.
Ein Gutachter in Düsseldorf sagte etwas sehr Zynisches: «Sie müssen sich vorstellen, daß die Liste der Leute, denen man helfen sollte, ellenlang ist. Und Sie stehen am ganz, ganz unteren Ende dieser Liste. Bevor man sich mit Bartsch befaßt, befaßt man sich erst noch mit allen Anderen.» Dabei grinste er mich an. Anschließend malte er mir noch die Geschichte von der bösen, bösenHeilanstalt aus, mit Schlägen, Beruhigungsspritze, Tobsüchtigen, Gummizelle usw., alles da. Wahrscheinlich wollte er mir Angst machen.
Ein äußerst unerfreulicher Besuch. Er war einer der «unterlegenen» Gutachter und besuchte mich, um mich mit all diesen greulichen Depressionen vollzustopfen. Dabei war ich extra noch gefragt worden (Herr Mies ist da sehr vernünftig): «WOLLEN Sie ihn überhaupt sehen?» Ich bin also selber schuld daran.
***
[Am 28. Februar 1972, hatte ich Jürgen im Düsseldorfer Gefängnis kurz besuchen können. Das war einer der wenigen Besuche, bei denen man uns allein ließ, ohne Anwesenheit eines Gefängnisbeamten. Nach achtzehn Jahren kann ich mich nicht mehr genau
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