Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
ohne meine Zustimmung natürlich nicht.
Sie sehen also, bestraft bin ich bereits für meine Voreiligkeit. Ich bin soweit aufgebracht, daß ich (was mein «gutes Recht» ist),ernstlich erwäge, das Manuscript vorläufig überhaupt nicht zu veröffentlichen, damit ich nicht gezwungen bin, es ihm zu überlassen.
Es tut mir nur so leid um die Sache selbst, denn die Warnung, welche dieser Artikel enthält, halte ich für unbedingt nötig.
Vor kurzem, etwa vor 3 Wochen, bekam ich einen kurzen Brief von Herrn W. So, wie er (W.) sich mir momentan darstellt, entpuppt, oder wie man es auch nennen will, braucht er in absehbarer Zeit eine Antwort nicht zu erwarten.
Und nun zu den Antworten.
Ungefähr zur selben Zeit, wo ich beim Meister van Loon in Altenessen in der Lehre war, lernte ich Viktor kennen, einen Jungen, der damals zwölf war, fast drei Jahre jünger als ich. Ich hatte mich in ihn richtig verliebt, regelrecht verguckt. Ich hatte ihn immer hinter mir hergezogen, wir sind mit dem Fahrrad überall hingefahren. Ich habe ihn zu Hause in der Siedlung kennengelernt. Er und seine Familie wohnen noch heute gegenüber von meinen Eltern.
Während des ersten Jahres hatte ich keinerlei bewußte Sexgedanken. Ich habe gern mit ihm gebalgt und gerne dabei auf ihm gelegen, aber das ist heute für mich ein Beweis, daß solche Gedanken doch im Hinterkopf immer drinsitzen, egal für wie rein man solche Freundschaft auch hält.
Wir sind mal schwimmen gegangen, aber meistens sind wir per Anhalter durch die Gegend gefahren. Fast jeden Nachmittag sind wir nach Velbert gefahren.
In meine damaligen Phantasien und Gedanken und Pläne habe ich ihn nie mit einbezogen. Das hätte ich um Gottes willen niemals getan, grundsätzlich, aus Prinzip, auch wenn ich Ihnen das Prinzip leider nicht nennen kann. Wenn ich jemanden persönlich liebe, wie ein Junge ein Mädchen lieben würde, ist das eben mehr, als wenn er meinen Idealvorstellungen als Opfer meines Triebes entspricht. Es ist nicht, daß ich mich da nun bemühen müßte, mich da irgendwie zurückzuhalten, das ist Quatsch. In so einem Fall fällt der Trieb einfach automatisch aus.
Wir sind meistens bei mir gewesen. Er hat Micky-Maus-Hefte usw. gelesen. Damals habe ich einen Plattenspieler und Schlagerplatten gehabt, und er hat sie immer gerne gehört. Es gab einen Schlager, «Lollipop» – das haben wir gehört, bis zum Verrücktwerden. Mit fünf oder sechs Jahren habe ich «Lili Marleen» gehört und dabei geweint. «Lili Marleen» fasziniert mich heute noch. Eine schöne Melodie. Ich habe auch die Originalaufnahme. Die habe ich meinem Vater zum Geburtstag gekauft, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Ich habe damals immer einen Genuß daran gefunden, wahrscheinlich gerade, weil ich niemanden hatte, weil ich so allein war.
Ich habe mir sehr oft traurige Lieder angehört. Damals waren sie eigentlich noch trauriger als heute. Bei meinen Eltern im Wohnzimmer in der Goethestraße stand eine ganze Truhe, und ich habe meine eigenen Schallplatten gehabt. Da habe ich mir meine Platten angehört, wo ich so viel Zeit allein war. Der Lautsprecher war fast auf der Erde, und ich habe mich davorgelegt. Wenn der Freddy [Quinn] sang, habe ich immer versucht, in den Lautsprecher reinzukriechen. Geheult habe ich oft dabei. Manche wunderschöne Lieder kenne ich heute noch davon. Einmal waren wir bei Verwandten zu Besuch und meine Eltern fragten: «Was habt ihr denn für neue Schallplatten?» Sie hatten «Heimweh» von Freddy, und ich sagte, sie sollten das mal auflegen, aber meine Mutter sagte: «Um Gottes Willen, da fängt er gleich an zu heulen!» Die hielten das für Unsinn, haben die Platte aufgelegt, und da war ich prompt am Schreien.
Auch gern hatte ich Freddys Platte «Heimatlos, wie viele auf der Welt, einsam, wie ich» usw. Und «Endlose Nächte», die habe ich mir endlos angehört. Du lieber Gott, da habe ich mal gebrüllt! «Kein Land kann schöner sein.» Ich liebe auch ein Menuett, das praktisch jeder gerne hört. Und dann die «Kleine Nachtmusik», besonders den dritten Satz, ich finde ihn irgendwie ergreifend. Oder «Die Moldau» – wunderschön! Aber das allgemeine Koloraturagekreische – nein, nein.
Viktor und ich haben auch Nana Mouskouri gern gehört. DieseTräume von der hehren, reinen Freundschaft sind immer weitergegangen, und ich habe ihm von dem Buch «Der goldene Armreif» erzählt. Aber wir haben uns getrennt, und drei lange Jahre haben wir uns kaum gesprochen.
Die
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