Jürgen Klopp: Echte Liebe
zermürbt. Denn für »eigentlich« gibt es noch immer keine Punkte. Klopp selbst wirkte kurz nach der bitteren Niederlage in Frankreich sehr nachdenklich. Dass seine Mannschaft ein Spiel auf diese Art verlieren konnte, das irritierte, das wurmte ihn. Doch der gängige Erklärungsansatz, dass Fehler auf internationalem Parkett konsequenter bestraft werden, er hatte einmal mehr gegriffen.
Ein nicht minder frustrierter BVB-Sportdirektor Michael Zorc hatte in Marseille bereits während der Pause im TV-Interview analysiert: »Wir haben mehr Ballbesitz, laufen mehr, liegen aber hinten. Wir sind zu nervös und haben einfache Ballverluste. Insgesamt muss sich unser Spiel ändern.« Da hatte es noch »nur« 0:1 gestanden. Nur wie musste sich das Spiel des BVB wieder ändern?
Weniger Tore ohne den Knipser
Deutlich bemerkbar machte sich zu Saisonstart das Fehlen von Torjäger Lucas Barrios, 2010/11 mit 16 Ligatoren Dortmunds mit Abstand treffsicherster Schütze. Der paraguayische Nationalstürmer zog sich bei der Südamerika-Meisterschaft im Sommer 2011 einen Muskelbündelriss zu, der ihn zu einer mehrwöchigen Pause zwang. Ohne Barrios mangelte es dem BVB im Angriff an Durchschlagskraft. Auch wenn Jürgen Klopp Saisonvergleiche nicht schätzt, so macht ein Blick in die Statistik doch ein Manko deutlich: Bis zum sechsten Spieltag verwerteten die Schwarzgelben von 34 Torchancen nur magere 20,6 Prozent. 27 Kein Team der Liga wies bis dahin einen schwächeren Wert auf. Hatte die Borussia 2010/11 nach acht Spieltagen bereits 20 Tore auf dem Habenkonto vorzuweisen, standen ein Jahr später erst 13 zu Buche. Auch in seiner Funktion als Ballableger für die nachrückenden Mittelfeldspieler fehlte Barrios seiner Mannschaft.
Im Sommer hatte der Klub darauf verzichtet, auf dieser Position nachzulegen und einen ähnlich starken »Knipser« zu verpflichten. Ein Fehler? Wäre Barrios allerdings fit geblieben und ein möglicher Neuzugang hätte lediglich die Bank gewärmt – wäre Ärger dann nicht vorprogrammiert gewesen?
Ohnehin wollte Klopp die Schwächephase nicht an einzelnen (fehlenden) Spielern festmachen, sondern deckte ein grundsätzliches Fehlverhalten auf – mangelnde Kompromisslosigkeit: »Auch wir dürfen den Ball mal auf das Tribünendach feuern. Ist die Situation defensiv unsicher, müssen wir das Spiel unterbrechen, indem wir den Ball einfach ins Aus schießen. Ist die Situation offensiv unsicher, müssen wir auf das Tor schießen. Das sind Dinge, die uns zurzeit schwer fallen.« 28
Nach der Enttäuschung von Marseille reagierte Klopp und setzte beim folgenden Bundesliga-Spiel gegen den FC Augsburg (4:0) die formschwachen Neven Subotic, Sebastian Kehl (in der Liga ohnehin meist durch Ilkay Gündogan ersetzt), Kevin Großkreutz und Shinji Kagawa auf die Bank. Dabei betonte der Trainer, dass die Umstellungen nicht aufgrund von Leistungs-, sondern Kraftgründen erfolgt seien – auch, um sie vor weiterer öffentlicher Kritik zu schützen.
Anderes Spiel ohne Taktgeber Sahin
Zusätzlich fiel auf, dass sich ohne den zu Real Madrid gewechselten Nuri Sahin die Spielanlage der Borussia etwas verändert hatte. Der extrem passsichere Organisator ließ sich häufig bis in die Abwehr zurückfallen, um sich von dort selbst die Bälle zu holen. Dort konnte er sich zunächst ohne direkten Gegenspieler einen Überblick verschaffen und hatte das Spiel vor sich.
Doch sich die Bälle von den Innenverteidigern abzuholen, um dann das Spiel zu strukturieren, entspricht weniger der Vorgehensweise von Neuzugang Ilkay Gündogan, der nun häufig Sahins angestammten Platz neben Sven Bender im zentral-defensiven Mittelfeld übernahm. Wobei ein direkter Spielervergleich nicht fair ist, denn in Gündogans Alter (Jahrgang 1990) war auch der gut zwei Jahre ältere Sahin noch nicht auf seinem heutigen Leistungsstand. Dennoch, egal, ob Gündogan, Kehl oder Antonio da Silva neben dem gesetzten »Arbeitstier« Bender spielt: Borussia fehlte der Taktgeber, den zuvor Sahin so exzellent gab.
Die Folge: Weil die Ideen im Mittelfeld fehlten und der Ball daher häufiger vorsichtig zurück als nach vorne gespielt wurde, begann der Dortmunder Spielaufbau nun verstärkt weiter hinten, bei den Verteidigern. Als Beleg dafür dient ein Blick in die Statistik: Addierten sich die Ballkontakte der beiden Innenverteidiger Hummels und Subotic im Vorjahr noch auf jeweils gut 60 pro Spiel, waren es bis einschließlich des siebten Spieltages der neuen Saison bei beiden
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