Jürgen Zöller Selbst - Aus dem Leben des BAP-Trommlers
Mann einfach nicht mit dem Wehrdienst kompatibel sein könnte. Aber er behielt seine Ahnungen für sich und schrieb ihn anschließend „heimkrank“. Trotzdem. Irgendwann, und dieser Tag würde nicht allzu fern sein, würde er wieder einrücken müssen. Solange er im
Top Cat,
dieser pulsierenden anheimelnden Gebärmutter mit Musikbox war, störte es nicht weiter. Was in der
Fliegerklause
das ausgebeinte Leslie-Cabinet war, hier fand es sein Gegenstück in Form eines Klaviers: Statt der Tasten und der Saiten war die Beschallungsanlage dort eingebaut. Ein teurer Röhrenverstärker, gute schwere Plattenspieler, Revox-Tonbandgeräte. Damit konnte der Plattenaufleger die ihm anvertrauten Tänzer in ganz neue Dimensionen der Musikverkostung schicken: Hinterbandkontrolle, gib’s ihm! Bandecho! Lasset den Himmel einstürzen zum Klang von um die Wette sägenden Hammondorgeln, reitet davon auf den nebligen Tauschwaden des triefenden Stratocaster-Gewitters. Da gab es nicht nur die Halbweltfiguren Bobby und Hexe. Da gab es auch Johann Sebastian Bach. „Wie … heißt … du?“ „Johann … Sebastian … Bach, sag ich doch!“ „Guter Witz.“ „Kein Witz.“ Es war kein Witz. „Nenn mich einfach Beatle.“ Sein Vater war Metzgermeister und wollte einen Sohn mit diesem Namen, der auch Metzgermeister werden sollte. Große Wurst sollte er komponieren. An einer Hand fehlte ihm deshalb ein Finger. Inzwischen ärgerte er sich nicht mehr über seinen Namen. Oder anders gesagt: Keiner konnte ihn mehr damit ärgern. Beatle hatte sich abgenabelt, und er kämpfte um seinen eigenen Weg, das merkte Jürgen. Beatle stammte aus Duisburg, zusammen mit seinem Bruder hatte es ihn ins Hessische verschlagen. Beatle saß in diesen Tagen meistens an der Kasse im
Top Cat.
Er wechselte sich mit Jürgen als DJ ab, alle zwei Wochen zogen sie zusammen los und kauften die neuesten Platten. Abends trafen sie sich dann wieder zur verschärften und ausgedehnten Hinterbandkontrolle im langen Schlauch des
Top Cat,
ihrer Heimat. Wenn Bandecho, Hinterbandkontrolle, US-Import-Platten-Mischung in einem guten Verhältnis zu einander standen und oben überm Taunus auch noch der große Hippiemond seine taumelnde Spur zog, dann traten sie gerne vor die Tür, und sie sahen, dass es gut war: große Tüten glühten wie rötliche Sternschnuppen unter dem nächtlichen Himmel. Wenn im
Top Cat
Schicht war, ging es in Frankfurt weiter: Nächte, die nie endeten, dank Captagon.
Es war halb elf. Ja, gut. Wie? Halb elf? Jürgen erschrak. Um zehn hätte er wieder in die Kaserne einrücken müssen! Zweiundzwanzig Uhr, Sonntag Abend, Zapfenstreich. Vorbei am Offizier vom Wachdienst, ab in die schlechte Stube, Licht aus. Morgens um sechs: „Kommmpanieeeeee aufschdddddd!“ Es wurde sechs Uhr morgens, aber er stand immer noch an seinem Plattenspielerklavier. Jetzt stehen sie auf, dachte er. Der Spieß webelt in ein paar Minuten vor den bleichen Gestalten rum, einer fehlt, er wird brüllen. Ich fehle. Aber ich bin kein Held. „Du musst doch schon längst in der Kaserne sein …“, hört er Bobby Bloom plötzlich sagen. „Auf, jetzt mach, wir fahren.“ Und schon saßen sie im Chevrolet Corvette Stingray, 425 PS, offenes Verdeck, ein Auto von einem anderen Stern, oder zumindest aus einem amerikanischen Film. Bobby Bloom, Beatle, Jürgen und zwei Mädels. Immer mit einem Bein im Gefängnis, dabei frech wie Rotz, und doch hatte Jürgen so was wie ein schlechtes Gewissen, spürte den inneren Hasenfuß im Hinterkopf: Es ist jetzt nicht 10 Uhr abends, es ist jetzt 10 Uhr morgens. Die Wachdiensthabenden rieben sich die Augen. Waren das die berühmten und oft angekündigten weißen Mäuse jetzt? Jürgen fasste einen schnellen Entschluss, und der hieß: Flucht nach vorn. Wenn schon in der Scheiße, dann jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, nicht auf andere, nicht auf sich selbst. Er marschierte zum Kompaniechef und meldete sich schwul. Hoppla, das funktionierte aber. Schneller als erwartet durfte er sich beim Psychologen im Bundeswehrlazarette in Koblenz „outen“. Er lernte: potentielle Homosexualität ist beim Granatenwerfen ansteckend, nicht aber beim Dusche schrubben. Denn die Diagnose lautete glasklar: Innendienstkrank. Danach Urlaub.
Urlaub hieß auch: öfter ein Besuch im
Storyville.
Und eben da kam im Frühjahr ’68 Rainer Marz durch die Tür. Es wurde schnell ein Veteranentreffen der Englandabenteuer-Geschädigten. „Du auch?“ „Ja, ich auch. Ich wollte mit ’ner
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