Julia Ärzte zum Verlieben Band 49
Muskeldystrophie ließ sie lange nicht einschlafen. Als der Schlaf sie dann übermannte, wurde sie mitten in der Nacht vom schrillen Klingeln des Telefons geweckt. Benommen strich sie sich das Haar zurück und griff nach dem Hörer. Dabei fiel ihr Blick auf den Wecker. Halb drei Uhr morgens! „Hallo?“, murmelte sie.
„Ich bin’s, Andrew. Ich stehe draußen vor der Tür. Lässt du mich herein?“
Andrew? Libby sprang aus dem Bett, lief die Treppe hinunter und schloss die Haustür auf.
In der Diele nahm er sie in die Arme. „Ich dachte, du kommst heute nicht mehr“, murmelte sie an seiner Brust.
Andrew hielt sie ein Stück von sich und schaute ihr prüfend in die müden Augen. „Das hatte ich auch nicht vor. Aber du hattest diesen merkwürdigen Klang in der Stimme, auch wenn du mehrmals behauptet hast, dass alles in Ordnung ist. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte, und es ließ mir keine Ruhe.“
Sie wandte das Gesicht zur Seite, doch ihm entgingen nicht die Tränen, die ihr in den Augen brannten. „Du hattest recht. Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen muss. Etwas, das du wissen solltest.“
Andrew pochte das Herz dumpf in der Brust. Fast fürchtete er sich vor dem, was sie ihm zu sagen hatte. „Gut, dann lass es uns irgendwo bequem machen und darüber reden.“
„Im Bett?“, schlug sie vor, und er nickte. Er zog seine Jacke aus und warf sie über das Treppengeländer. Dann folgte er Libby ins Schlafzimmer.
Sobald sie eng aneinandergekuschelt im Bett lagen, begann sie mit ihrem Bericht. „Vor einem Jahr fuhr ich zur Beerdigung einer Großtante. Dort traf ich einen jungen Mann, einen Cousin. Er saß im Rollstuhl.“ Sie schluckte. „Er hatte die gleiche Krankheit wie Craig.“
Andrew spürte, wie ein eisiges Gefühl in ihm hochstieg. „Muskeldystrophie?“
„Ja. Ebenfalls vom Typ Duchenne.“
Er schluckte. Kein Wunder, dass sie einen so merkwürdigen Eindruck gemacht hatte, als wäre ihre Welt unversehens aus den Fugen geraten. „Und du hattest nichts davon gewusst?“
„Nein, ich hatte keine Ahnung. Es handelt sich dabei um einen x-chromosomal-rezessiven Erbgang, wovon Mädchen nicht betroffen sind, oder nur in extrem seltenen Fällen. Ich habe nur eine Schwester. Meine Mutter war ein Einzelkind und meine Großmutter eins von zwei Mädchen. Auf unserer Seite der Familie gibt es keine Fälle dieser Krankheit.“
„Und dieser Cousin?“
„Er stammt von der väterlichen Seite. Wir hatten nie Kontakt mit seiner Familie.“
„Oh, Libby. Das tut mir wirklich leid!“ Sein Herz litt mit ihr. Sie liebte Kinder und würde eine wundervolle Mutter abgeben. „Bist du Trägerin der Krankheit?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie unglücklich. „Meine Schwester ist es jedenfalls: Sie hat es vor Kurzem herausgefunden. Sie hat ihre kleine Tochter sofort testen lassen, aber das Resultat steht noch aus. Ich hatte in dieser Beziehung bisher noch nichts unternommen, da ich in keiner Partnerschaft lebte und nicht vorhatte, in nächster Zukunft schwanger zu werden. Aber jetzt … nachdem ich Craig gesehen habe …“ Ihre Stimme begann zu schwanken. „Jetzt kann ich das Problem nicht länger ignorieren. Auf keinen Fall will ich ein Kind in die Welt setzen, das dann derartig zu leiden hat.“
Andrew schloss sie fester in die Arme, während sie leise an seiner Brust weinte. Er konnte ihr bestens nachfühlen, wie ihr zumute war. Man hielt es für eine selbstverständliche Sache, dass man eines Tages Kinder haben würde, und war dann am Boden zerstört, wenn sich herausstellte, dass einem die Möglichkeit genommen war.
„Alles in Ordnung, Craig?“, erkundigte Libby sich.
Der junge Patient nickte schläfrig. Er hatte bereits eine Spritze bekommen, die ihn auf die Narkose vorbereiten sollte. „Ja. Ich bekomme nur schlecht Luft.“
Libby stopfte ihm noch ein Kissen unter den Kopf und stellte seine Sauerstoffzufuhr neu ein. „Besser?“
„Ja, danke.“
Es rührte Libby ans Herz, wie tapfer er sein Schicksal akzeptierte und wie mutig er einer Operation entgegenblickte, die für andere keine große Angelegenheit war, ihm jedoch das Leben kosten konnte. Aber sie wusste auch, dass Andrew nicht operieren würde, wenn das Ärzteteam zu große Bedenken gehabt hätte.
Wenig später wurde Craig in den OP gebracht. Sie begleitete ihn noch und blieb bei ihm, bis der Anästhesist mit der Narkose begann.
„Bis später“, sagte sie, und er lächelte ihr benommen zu.
„Alles in Ordnung?“
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