Julia Ärzte zum Verlieben Band 54
hatte nicht vor, abseits der Piste zu fahren, aber bei diesen Bedingungen hatte sie immer ihre Notfallausrüstung dabei.
Sie schaute über die Grey Corries hinweg in Richtung der Mamores. Dort war der Five Finger Gully, die mit Abstand schwierigste Abfahrt in dieser Gegend.
Genau das war ihr Ziel. Es gab wenigstens einen Ort, an dem ihr niemand etwas vormachen konnte. Ihr Selbstbewusstsein brauchte dringend ein Erfolgserlebnis.
Außer ihr war kaum jemand auf der Piste. Die Saison war fast vorbei, und nur die ganz unersättlichen Skifahrer waren noch unterwegs.
Die Sonne war schon länger hinter den Wolken verschwunden. Der Wind war schneidend, und Julie war froh, dass sie Helm und Skibrille hatte. Die Sicht wurde immer schlechter, aber das machte für sie kaum einen Unterschied.
Die erste Abfahrt war herrlich. Die Konzentration, die Geschwindigkeit – alles half, die Gedanken an Pierre zu vertreiben.
Nachdem sie unten angelangt war, sah sie auf die Uhr. Fünf Minuten, das war ihre normale Zeit. Sie wollte mindestens eine halbe Minute schneller werden, und wenn es den ganzen Nachmittag dauerte.
Als sie oben am Lift stand und sich für die nächste Abfahrt bereit machte, wurde sie plötzlich von hinten am Arm gepackt.
Sie fuhr herum und sah sich Pierre gegenüber. Selbst im Schneetreiben konnte sie sehen, wie seine Augen vor Ärger glitzerten.
„Ich wusste, dass ich dich hier finde“, sagte er mit gepresster Stimme.
„Ich dachte, ich habe dir klar und deutlich geschrieben, dass du nicht nach mir suchen sollst“, gab sie bissig zurück. Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe?
„Hier können wir nicht reden“, sagte er. Der Wind riss seine Worte fort. „Komm mit nach unten, wir suchen uns einen Schutz vor diesem Unwetter.“
Julie lachte nur. „Du kannst machen, was du willst, aber ich bin zum Skifahren hier.“ Sie wand sich aus seinem Griff und glitt den Berg hinunter.
Sie spürte, dass er ihr folgte, aber sie fuhr einfach schneller. Sie wollte nicht mit ihm reden, weder jetzt noch überhaupt. Vielleicht in hundert Jahren, wenn sie sich etwas beruhigt hatte.
Als sie an den ersten Steilhang kam, sah sie unter sich zwei Skifahrer. Ein Mann und eine Frau, und beide sahen aus, als ob sie in Schwierigkeiten steckten.
Die Sicht war inzwischen auf ein Minimum gesunken. Die junge Ärztin wusste, dass weiter unten ein ungesicherter Hang kam, der die beiden direkt in ein Lawinengebiet führen würde.
Rufen war zwecklos – der Wind würde ihre Stimme schlucken. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste hinterher und die beiden warnen.
Ohne zu zögern stürzte sich Julie in den Steilhang. Nach wenigen Sekunden hatte sie die Frau erreicht und fuhr neben ihr her. Sie deutete energisch nach rechts, wo es sicher war, aber sie konnte in den panischen Augen der Skifahrerin sehen, dass sie die Kontrolle verloren hatte.
Julie traf eine Entscheidung. Sie versuchte, die Frau mit ihrem eigenen Körper von dem Abhang wegzudrängen. Und dann kam es, wie es kommen musste: Ihre Ski verhakten sich, und beide stürzten in voller Fahrt.
Julie wusste, dass sie ihren Körper entspannen musste, um nicht verletzt zu werden. Nach einigen Sekunden, die ihr wie Minuten vorkamen, blieb sie im Schnee liegen.
Die Frau, die einen roten Skianzug trug, lag wenige Meter von ihr entfernt reglos auf der Piste. Julie sah sich um. Der andere Skifahrer hatte nicht bemerkt, was hinter ihm passiert war. Er fuhr unbeirrt auf den Abhang zu.
Julie zögerte. Sollte sie sich um die verletzte Frau kümmern oder ihrem Begleiter hinterherfahren, der sich in ungleich größerer Gefahr befand?
In dem Moment kam Pierre zum Halten. „Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „ Mon dieu , einen Augenblick lang dachte ich, du willst euch beide umbringen.“
Julie wusste, dass er sich um die Frau kümmern würde; sie fuhr dem Mann hinterher, der inzwischen außer Sichtweite war.
Als sie an den Abhang kam, sah sie, dass der Mann im schwarzen Skianzug hinuntergestürzt war. Zum Glück schien er sich jedoch in dem tiefen Schnee nicht verletzt zu haben, denn sie konnte erkennen, wie er versuchte, sich aufzurappeln.
Sie wollte sich gerade wieder zu der Frau und Pierre umdrehen, als sie ein lautes Krachen hörte, als sei eine Kanone abgefeuert worden.
Julie wusste, was das bedeutete. Voller Bangen sah sie, dass sich weiter oben am Berg ein Schneebrett gelöst hatte und nun mit steigender Geschwindigkeit und Masse direkt auf den Skifahrer unter ihr
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