Julia Aerzte zum Verlieben Band 60
geblieben war. Er hatte sich beruhigen, den Kopf klären wollen, und das gelang ihm meistens, wenn er auf den weiten Ozean hinausblickte.
Jetzt drohte dieser Ozean zu einer tödlichen Gefahr für Evie zu werden …
„Evie!“, rief er wieder, als er Sand unter den Füßen spürte. „Evie!“
Sie brauchte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass sie in einen Brandungsrückstrom geraten war. Wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, die Strömung war stärker.
Wie ein wilder Trommelwirbel dröhnte ihr Herzschlag ihr in den Ohren, während Evie sich daran zu halten versuchte, was jedes australische Kind, das in der Nähe einer Küste aufwuchs, von klein auf gelernt hatte.
Kämpfe niemals dagegen an.
Leg dich auf den Rücken und lass dich treiben.
Warte, bis die Strömung schwächer wird, und schwimme dann parallel zum Strand.
Spar deine Kräfte.
Augenblicklich fühlte sie sich verloren, dem sicheren Tod ausgeliefert. Woher sollte sie die Kraft nehmen, zurückzuschwimmen, sobald dieses Monster sie nicht mehr in den Klauen hielt? Sie öffnete die Augen, um zum Ufer zu blicken, von dem sie sich mehr und mehr entfernte.
Und dann sah sie ihn.
Finn, mit nacktem Oberkörper und nur einer Hose bekleidet, rannte aufs Meer zu. Sein Blick war auf sie gerichtet, sein Mund offen. Rief er nach ihr? Sie hörte es nicht, aber nur ihn zu sehen ließ ihr Herz jubeln. Vor einer halben Stunde noch hätte sie ihn umbringen können, doch in diesem Moment war er das, was er seit ihrer ersten Begegnung bei jenem Galadinner für sie gewesen war – ihr Ein und Alles.
Sie war müde, sie fror, aber auf einmal glaubte sie fest daran, dass alles gut werden würde. Evie spürte, wie die Anspannung nachließ, und konnte sich von der Strömung treiben lassen. Sie ließ Finn nicht aus den Augen, als er sich in die Wellen stürzte und mit kraftvollen Zügen auf sie zuschwamm.
Mit klammen Fingern tastete sie nach ihrem Bauch und flüsterte: „Alles wird gut, Baby, Daddy ist unterwegs …“
Finn erreichte sie fünf Minuten später, als die Strömung sie gegen die felsigen Klippen schwemmte, die diese Bucht von der nächsten trennte.
Evies Lippen waren schon blau, und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Aber sonst schien sie okay zu sein, und die eisige Faust um sein Herz lockerte sich ein wenig. Zwar waren sie noch nicht aus dem Schneider, doch wenigstens drohte sie nicht zu ertrinken.
„Bist du okay?“, brüllte er, um das Krachen der Wellen gegen die Felsen zu übertönen.
Evie nickte, versuchte zu lächeln, auch wenn ihre Lippen sich wie festgefroren anfühlten. Der Mann schien nicht einmal außer Atem zu sein! „M…mir ist kalt“, flüsterte sie.
„Hier ist die Strömung nicht mehr so stark, lass uns zurückschwimmen.“ Es war die einzige Möglichkeit, Evie warmzuhalten. „Die Bewegung bringt deinen Kreislauf in Schwung.“
„Okay.“
„Schaffst du das?“
Sie blickte zum Strand, der unendlich weit weg schien, und dachte an ihr Baby. Das kleine Leben hing von ihr ab. „Muss ich wohl“, antwortete sie matt. An ihren Armen und Beinen schienen Gewichte zu hängen, jede Bewegung war wie Schwimmen durch zähen Haferbrei.
Finn hörte ihr die Erschöpfung an und blickte sich um. Sie befanden sich zwischen den beiden Buchten, an der zerklüfteten Landzunge. Donnernd brachen sich dort die Wellen, und die Gefahr, dass sie an den Felsen zerschmettert wurden, war groß. Doch die Bucht dahinter lag geschützter als diese hier, und Finn entdeckte Stellen, wo sie sich vielleicht aus dem Wasser ziehen konnten, ohne sich zu verletzen.
Das würde auf jeden Fall schneller gehen und weniger Energie kosten als das kräftezehrende Schwimmen zum Ufer.
„Da hinten“, sagte er. „Wir müssen auf den Felsen dort. Los. Ich folge dir.“
Evie war zu müde, um auch nur in die Richtung zu sehen, in die er deutete.
„Komm schon, Evie. Du musst aus dem Wasser raus.“
„Okay, okay.“ Seufzend paddelte sie los wie ein junger Hund. Zu mehr war sie nicht in der Lage.
Ein paar endlose Minuten später hatten sie die Landzunge erreicht, und Finn betrachtete die Felsen. Er entschied sich für einen ebenen, sanft geschwungenen Felsen, der fast wie eine Rampe ins Wasser führte, und wollte sich daran hochziehen. In dem Moment kam ein Brecher wie aus dem Nichts und schleuderte ihn auf den Stein. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, nahm ihm den Atem, und kaltes Salzwasser drang ihm in den Mund.
Evie keuchte entsetzt auf.
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