Julia Aerzte zum Verlieben Band 61
heraufzuckte. Er hatte ihre Anteilnahme nicht verdient. Er war es nicht wert. Eigentlich hatte er nichts weiter als Verachtung verdient.
Genau deshalb hatte er England verlassen. Um vor der Anteilnahme anderer Menschen zu flüchten. Den wohlmeinenden Worten und Grußkarten-Plattitüden. Im Bewusstsein dessen, dass er Camilla in den Tod getrieben hatte. Er allein war schuld daran. Jeden Tag in Julians Gesicht zu schauen, war kaum auszuhalten.
Alessandro senkte den Blick. Es kostete ihn seine gesamte Willenskraft, um den Gefühlsaufruhr zu unterdrücken, der in ihm tobte.
„Nat“, meinte er, ehe er sie wieder ansah. „Ist das irgendeine Abkürzung?“
Einen Moment lang, bevor er zu Boden schaute, hatte sie einen Ausdruck tiefster Verzweiflung in seinen Augen erkannt. Doch jetzt war seine Miene verschlossen wie eine Maske.
Offensichtlich liebte er seine Frau noch sehr, wollte aber nicht darüber sprechen.
„Nathalie“, antwortete sie. „Ich sollte eigentlich ein Junge werden.“
„Ah.“
„Nathaniel. Kurzform Nat.“ Sie achtete darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie unzulänglich sie sich immer gefühlt hatte, weil ihr Vater sich einen Sohn gewünscht hatte. „Meine Eltern hatten sich schon so daran gewöhnt, mich Nat zu nennen, dass sie sich für Nathalie entschieden.“
„Nathalie“, wiederholte Alessandro. „Ein hübscher Name. Viel schöner als Nat.“
Zumindest, wenn er ihn mit seinem exotischen Akzent aussprach. So klang es nach einer erwachsenen Frau. Von einer Sekunde zur anderen hatte er ihrem Namen eine weibliche Note verliehen. Und in diesem Augenblick begriff Nat, was Liebe auf den ersten Blick bedeutete. Nicht dass sie so dumm wäre. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Nach der Erfahrung mit Rob würde sie sich hüten, sich auf einen Mann einzulassen, der immer noch eine andere Frau liebte. Selbst wenn sie tot war.
„Mir ist Nat lieber“, gab sie leichthin zurück und streifte sich einen nicht vorhandenen Fussel vom Kittel.
Alessandro beobachtete ihre nervöse Geste. Er hatte eben eine ungewohnte Verletzlichkeit in ihrem Blick gesehen. „Ah ja. Nat. Nat, Nat, Nat, Nat. Ich höre diesen Namen zu Hause so oft, dass es mir scheint, als hätten Sie magische Kräfte. Vermutlich könnten Sie Harry Potter bald Konkurrenz machen.“
Nat musste lachen. Magische Kräfte, na klar. „Spricht Julian von mir?“
Gegen seinen Willen bemerkte Alessandro, wie die Uniform sich über ihrer Brust spannte. Wie der Reißverschluss in ihrem Ausschnitt lag. Es war schon so lange her, dass ihm überhaupt irgendetwas an einer Frau aufgefallen war. Aber bei dieser gesprächigen australischen Krankenschwester wurde das allmählich zur Gewohnheit.
Er lächelte etwas gezwungen. „Pausenlos.“
Sie lachte. „Sorry.“ Aber es machte sie froh, dass sie bei dem kleinen, ernsten Jungen aus dem Hort etwas bewirken konnte. An ihren Tagen dort hielt sie nach ihm Ausschau. Und wenn sein trauriges kleines Gesicht sich aufhellte, sobald er sie sah, schmolz ihr das Herz.
Alessandro hob die Schultern. „Ich freue mich, dass er jemanden hat.“
Auch wenn das bedeutete, dass sie oft in seinen Gedanken auftauchte und in seinen nächtlichen Träumen. Die wenigen Stunden, in denen es ihm gelang, etwas Schlaf zu bekommen, waren voll von ihr. Erotische Bilder, die er seit der Pubertät nicht mehr erlebt hatte.
Noch ein Grund, sich zu verabscheuen. Camilla war noch kein ganzes Jahr tot, und er hatte schon Fantasien von einer kleinen australischen Doppelgängerin wie ein hormongesteuerter Teenager.
„Er ist ein toller Junge, Alessandro.“ Nats Stimme war sanft geworden, und man hörte ihr an, dass sie echte Zuneigung für Julian empfand.
Alessandro wünschte, seine eigene Beziehung zu seinem Sohn wäre auch so unkompliziert. Doch in Julian sah er jedes Mal Camilla, und seine Schuldgefühle wurden noch größer. „Ich weiß.“
Das stimmte. Aber er wusste nicht, wie er mit einem Kind umgehen sollte, das ihm völlig fremd war. Er wusste nicht, wie er seinen Sohn ansehen, wie er ihn lieben und gleichzeitig so tun sollte, als wäre nicht er der Grund dafür, dass Julians Welt zerbrochen war.
Einen langen Moment sahen Nat und er sich an, dann klingelte auf einmal ein Telefon. Es dauerte einen Augenblick, ehe ihr klar wurde, dass es nicht das Notruftelefon im Lift war, sondern ihr Handy.
Sie zog es aus der Kitteltasche. „Na, so was“, meinte sie erstaunt. „Guter Empfang. Hätte ich nicht gedacht.“ Sie schaute auf
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