Julia Aerzte zum Verlieben Band 61
Anziehungskraft, die diese Frau auf ihn ausübte, machte die Dinge nur unnötig kompliziert. „Ich ruf mal an und frag nach, was los ist.“
Sie nickte und wich ebenfalls zurück, froh über die stabile Wand hinter sich. Es kam ihr plötzlich vor, als würde sie nicht genug Luft bekommen.
Sobald Alessandro den Notrufhörer aufgelegt hatte, berichtete er: „Es gibt anscheinend ein Problem mit der allgemeinen Stromversorgung. Hat wohl was mit der Hitzewelle zu tun. Das Notstromaggregat ist angesprungen, aber zwei Lifts stehen noch still. Sie arbeiten dran.“
Nat fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Gedanke, einige Zeit mit ihm in diesem engen Raum zu verbringen, machte sie nervös. Ob er dieses Knistern zwischen ihnen auch spürte, oder war es bloß einseitig? „Haben sie gesagt, wie lange das dauern könnte?“
„Nein.“
„Porca vacca“ , murmelte sie.
Alessandro unterdrückte ein Lächeln. „Sie leiden hoffentlich nicht an Klaustrophobie?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, wenn Sie darauf warten, dass ich mich in ein hysterisches Weib verwandle.“
Camilla hätte inzwischen sicherlich ihren ersten Wutanfall bekommen und verlangt, mit einem der Verantwortlichen zu sprechen. Nats ruhige Art gefiel ihm da doch wesentlich besser. „Gut.“
Sie warf ihm einen Blick zu, schaute dann aber rasch wieder weg. „Na ja, es hat keinen Sinn, hier rumzustehen. Also kann man sich’s auch gemütlich machen.“
Im Schneidersitz ließ sie sich auf dem Boden nieder, den Rücken an die Liftwand gelehnt. Nat blickte zu Alessandro hoch und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihm, als sie so ungünstig im Sitzsack gesessen hatte. Jetzt lag wieder der gewohnt kühle Ausdruck in seinen dunklen Augen.
„Jetzt setzen Sie sich schon“, schimpfte sie.
Alessandro zog die Brauen zusammen. Nat Davies war ein ganz schön herrisches kleines Ding. Er rutschte an der Stahlwand hinunter und stellte die Beine vor sich auf. „Sind Sie immer so unfreundlich?“
Verblüfft sah sie ihn an und wollte protestieren. Nein, obwohl ihr Vater sie als Kind im Stich gelassen und sie gerade eine langjährige, katastrophale Beziehung hinter sich hatte, war sie eigentlich ein sehr umgänglicher und fröhlicher Mensch. Doch als sie an ihre beiden Begegnungen mit ihm dachte, musste sie zugeben, dass er mit seiner Bemerkung nicht ganz unrecht hatte.
„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen“, antwortete sie daher. „Wegen neulich, nach dem Tod von Ernie. Ich bin zu weit gegangen.“
Alessandro überraschte ihr Eingeständnis. Es war erfrischend, mal mit einer Frau zu reden, die sich auch entschuldigen konnte. „Nun ja, ein bisschen zu weit.“
Nat hätte sich gerne gerechtfertigt, dass ihre Reaktion nur in Julians Interesse gelegen hatte. Aber es war schon richtig. „Ich bin emotional immer zu sehr beteiligt. Die Oberschwester in meiner Ausbildung meinte, ich sei ein hoffnungsloser Fall.“
Er nahm das Stethoskop ab und lockerte seine Krawatte. Lächelnd sagte er: „Es gibt schlimmere Charakterfehler.“
Das wusste er allzu gut.
Nat war fasziniert davon, wie sehr sich sein Gesicht veränderte, sobald er auch nur leicht die Mundwinkel hob. Zusammen mit der schief sitzenden Krawatte und dem offenen obersten Hemdknopf bot er einen umwerfenden Anblick.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Der Meinung war sie nicht.“
Alessandro streckte ein Bein aus. Achselzuckend sah er sie an. „Wir hatten gerade den Kampf um ein Menschenleben verloren. Der Tod berührt jeden auf seine Weise.“
Nun wirkte er wieder ernst und düster. Nat zögerte kurz, ehe sie die Frage stellte, die ihr durch den Kopf ging. Aber über irgendetwas mussten sie ja schließlich reden, oder? „Wie lange ist es her, seit Ihre Frau gestorben ist?“
Sofort verspannten sich seine Nackenmuskeln, und er sah das Bild vor sich, als er zu Hause in England die Tür öffnete und zwei finster aussehende Polizeibeamte davorstanden. Unwillkürlich zog er das ausgestreckte Bein wieder an.
„Entschuldigung, jetzt mache ich es schon wieder“, sagte Nat. „Und es geht mich nichts an.“
„Neun Monate“, antwortete Alessandro gepresst.
„Es tut mir so leid“, meinte sie leise.
Er sah ihren mitfühlenden Blick, ihre blauen Augen in dem gedämpften Licht sanft und weich. Das konnte er nicht ertragen. Plötzliche heiße Wut durchfuhr ihn wie ein Blitz, der aus dem tiefen Abgrund des Selbsthasses in seinem Innern
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