JULIA ARZTROMAN Band 26
sie Adam liebte, sie würde ihre moralischen Grundsätze nicht über Bord werfen und mit einem verheirateten Mann schlafen. Es sei denn, er wäre mit ihr verheiratet! Und das war nicht der Fall, wie das Hochzeitsfoto an seinem Bett bewiesen hatte.
Sie gab sich einen Ruck und verscheuchte das Bild der langbeinigen Blondine. Du verschwendest nur Zeit, dachte sie und griff nach dem ersten Stein.
Bald hatte sie Tels Körper an einer Seite freigelegt, doch trotz der zahlreichen Blutergüsse und Schrammen war eindeutig, dass es nicht das blutende Bein war. Allerdings ließ die Lage der verbliebenen Steine den Schluss zu, dass ein Crush-Syndrom unwahrscheinlich war. Wenigstens ein gutes Zeichen.
„Sieht gut aus“, versicherte sie Jem, der jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgte. Beherzt griff sie nach einem der größeren Brocken, die den an der Wand aufgetürmten Geröllhaufen krönten.
„Vorsicht!“, rief Jem, doch da hatte sie schon eine kleine Lawine ausgelöst.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis keine Steine mehr rutschten, kullerten oder wackelten. Danach war noch eine Weile ein Knirschen und Ächzen zu hören, dann wurde es still.
„Seid ihr okay?“, ertönten drei aufgeregte Jungenstimmen vom Eingang des Stollens her.
„Ja, alles in Ordnung.“ Der Staub legte sich allmählich, und Maggie holte tief Luft. Die Vorstellung, lebendig begraben zu werden, hatte ihr endlose Sekunden lang den Hals zugeschnürt.
„Jem, leuchte mal bitte hier herüber“, bat sie. Ihre Stimme zitterte, und sie hoffte, die Jungen auf der anderen Seite würden es nicht hören.
Erleichtert stellte sie fest, dass es kein neuer Steinschlag gewesen war. Sie hatte schon genug mit ihrer Phobie zu kämpfen. Deshalb brauchte sie die Gewissheit, jederzeit die Stufen hinauf ins Freie klettern zu können. Schon die Vorstellung, wie Tel hier unten im düsteren Bauch der Erde gefangen zu sein, war unerträglich.
Kurz schweiften ihre Gedanken zu jenem entsetzlichen Nachmittag in London ab, als ein Mann und eine Frau vom Bahnsteig vor eine einfahrende U-Bahn gefallen – oder gesprungen – waren.
Ohne Adam hätte Maggie es nie geschafft, sich zwischen die Schienen zu zwängen, um die schwer verletzte junge Frau zu versorgen. Noch heute hatte sie den Blutgeruch in der Nase, der sich mit dem öligen Dunst des nur wenige Zentimeter über ihr hängenden schweren Waggons mischte. Wäre Adam nicht gewesen, der sie mit ruhigen Worten durch die schrecklichen Minuten begleitete, sie hätte nie die Kraft und die Vernunft aufgebracht, ihre Arbeit zu machen.
Aber wenn sie hier unten verschüttet wäre, könnte auch Adam ihr nicht helfen. Maggie besann sich auf ihr Ziel: alle fünf Jungen so schnell wie möglich hier rauszubringen. Das bedeutete, dass sie wieder von vorn anfangen musste: erst die kleinen Steine und dann die größeren einen nach dem anderen aus dem Weg räumen.
„Hast du etwas abbekommen, Jem?“, fragte sie, während sie Stein für Stein an der anderen Tunnelwand stapelte.
„Nein, nichts. Aber Sie, oder? Ich habe gesehen, wie einige Ihre Beine getroffen haben. Tut Ihnen was weh?“
„Morgen werden sie wahrscheinlich in allen Farben des Regenbogens schillern“, wiegelte sie ab. Viel mehr Sorge machte ihr, dass sie außer Atem war. Eine Folge der körperlichen Anstrengung oder Sauerstoffmangel? Wurde hier unten die Luft knapp? Würden sie bald alle ohnmächtig werden …?
Hör auf!, ermahnte sie sich und versuchte, ruhig und regelmäßig in den Bauch zu atmen. Adam und Mike erweiterten den Eingang. Natürlich kam genug Luft in den Schacht.
„Aber Schrammen heilen schnell“, erklärte sie munter, um sich nichts anmerken zu lassen. „Vor allem, wenn man sonst gesund ist. Starke Blutungen sind natürlich etwas anderes.“
„Als Frau können Sie kein Bluter sein, wissen Sie das?“, meinte er ernst. „In unserer Klasse war mal ein Junge, der die Bluterkrankheit hatte. Er musste ganz doll aufpassen, dass er beim Spielen auf dem Schulhof nicht hinfiel und sich die Knie oder Hände aufschürfte. Miss Venning, unsere Klassenlehrerin, hat uns von dem russischen Zar erzählt. Seine Kinder waren auch Bluter, und sie hatten es von unserer Königin Victoria geerbt.“
„Stimmt, sie hatte das Bluter-Gen.“
„Ist doch komisch“, sagte er nachdenklich. „Eine Frau gibt die Bluterkrankheit oder Farbblindheit an ihre Söhne weiter, ohne es zu wissen, weil sie selbst nicht krank ist.“ Jem nahm den Infusionsbeutel in die
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