JULIA ARZTROMAN Band 26
jedoch nicht genau sagen, ob ein Gelenk ausgekugelt, der Oberschenkel oder Schien- oder Wadenbein gebrochen war. Beschädigte Nerven- oder Blutbahnen konnten zu mangelnder Versorgung der Extremitäten führen und hoher Blutverlust zu einem tödlichen Kreislaufschock.
Sie biss die Zähne zusammen und schob die Hand wieder zwischen das Geröll. Gleich darauf hatte sie die Gewissheit: Schien- und Wadenbeinfraktur. Die Durchblutung im Fuß schien jedoch noch zu funktionieren und die Reflexe auch. Der Puls schlug gleichmäßig und kräftiger, seit sie Tel an den Tropf gehängt hatte, und die Atmung hatte sich verbessert, nachdem der Druck auf die Brust nachgelassen hatte. Trotzdem würden sie später, wenn sie ihn auf eine Trage hoben, auf möglicherweise gebrochene Rippen achten müssen. Eine punktierte Lunge hätte ihnen gerade noch gefehlt.
Viel mehr konnte Maggie im Moment nicht tun. Sie musste warten, bis Tel wieder zu Bewusstsein kam oder bis das Rettungsteam hier war, um den Rest der Felsbrocken zu bewegen. Also checkte sie ein letztes Mal die Infusion und zeigte Jem, dass sie die Steine absichtlich so aufgetürmt hatte, damit sie sie als behelfsmäßigen Infusionsständer nutzen konnte.
„So, Jem“, begann sie, während sie ihm den Beutel abnahm. „Es wird Zeit, dass ich euch von hier wegbringe. Komm.“
„Nein“, sagte er mit störrischer Miene.
„Jem …“
„Ich lasse Tel nicht allein“, unterbrach er sie. „Wenn er im Dunkeln aufwacht, und keiner ist da … keiner, der ihm sagt, dass wir wissen, wo er ist und dass wir nur das Loch größer machen, um ihn rauszuholen …“
Maggie schauderte schon bei dem Gedanken daran. Sie dachte kurz nach. „Okay, wenn du meinst“, sagte sie dann und legte Adams Taschenlampe so auf den Steinhaufen, dass er die Stufen beleuchtete. „Ich lasse dir die Lampe hier.“ Damit er nicht das Gefühl bekam, dass sie ihn für einen Angsthasen hielt, fügte sie rasch hinzu: „Sie würde mir nur im Weg sein, wenn ich Chris helfen muss.“
„Alles klar.“ Seine Stimme klang fester als ihre.
Vorsichtig kletterte Maggie über das scharfkantige Hindernis. Auf der anderen Seite warteten die drei Jungen bereits ungeduldig.
„Maggie …?“ Das trügerische Echo hörte sich an, als käme Adams Stimme aus allen Richtungen gleichzeitig.
„Ich komme!“, rief sie und bedeutete den beiden unverletzten Kindern, die Stufen hinaufzuklettern. „Aber nicht so schnell“, mahnte sie, als sie wieselflink den Aufstieg in Angriff nahmen. „Vielleicht brauchen Chris und ich eure Hilfe.“
„Ich schaffe das schon“, vermeldete Chris tapfer, aber sein Gesichtsausdruck verriet etwas anderes. Zaghaft reckte er den Hals und ließ den Blick über die steile Wand schweifen.
„Na klar, aber du musst deine Hand schonen. Ehe wir sie nicht geröntgt haben, solltest du sie nicht belasten.“ Maggie führte ihn am Ellbogen, als er den ersten, unsicheren Schritt machte.
Sie musste ihn auch auf den nächsten Stufen stützen, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Als sie vor der obersten standen, die ihr fast bis zur Schulter reichte, zitterte Maggie vor Erschöpfung und war heilfroh, dass Jonno und Dwayne ihr halfen, damit Chris auch das letzte Hindernis auf dem Weg in die Freiheit überwinden konnte.
„Lauft nicht einfach los“, keuchte sie. „Weiter vorn hängt ein Balken aus der Decke. Der haut euch k. o., wenn ihr dagegenrennt.“
Aber Dwayne und Jonno waren nicht mehr zu halten. Sie sahen buchstäblich Licht am Ende des Tunnels und flitzten los. Maggie passte sich Chris’ Tempo an und folgte ihnen langsam.
„Nicht so hastig, Kumpels. Einer nach dem anderen“, hörte sie kurz darauf eine Männerstimme. „Wir haben lange gebraucht, um alles anständig abzustützen. Ihr müsst es nicht gleich wieder einreißen.“
„Jetzt du, Chris“, sagte sie aufmunternd, als sie an der Reihe waren. Erstaunlich, wie wenig in der Zwischenzeit hier oben passiert war. Maggie hatte erwartet, dass ein Rettungsteam bereitstand, um Tel zu holen. Stattdessen waren vorerst nur die Ginsterbüsche entfernt und die Stollendecke mit neuen Holzbalken, die auf Metallstützen ruhten, gesichert worden.
„Vorsicht mit seiner Hand“, rief sie den unsichtbaren Helfern draußen zu. „Ich habe sie festgebunden, aber die Mittelhandknochen müssen dringend geröntgt werden.“
„Noch jemand?“, fragte dieselbe tiefe Stimme, und vor Maggie tauchte die Silhouette eines Kopfes mit Schutzhelm auf.
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