JULIA COLLECTION Band 11
lieber einen guten Grund dafür haben sollte, dass er sie nicht angerufen hatte. Und schließlich dachte sie, dass Edwin ihn offensichtlich auch in seinem Testament bedacht hatte.
Es war der zweite Gedanke, der sie sagen ließ: „Hallo, Frem der.“
Er schmunzelte, der Schuft, und sprang behände die Treppen hinauf. „Gehört es sich etwa, so mit einem armen Tropf zu reden, der zwei Tage und Nächte mit der Reparatur des Leiterwagens zugebracht hat?“
„Dann blieben dir also nur zwei Tage, um eine Telefonnummer zu wählen. Du Ärmster! Bestimmt arbeitest du noch daran, die letzte Ziffer einzugeben.“
Er blieb eine Stufe unter ihr stehen. „Ich hatte Arbeit und Schlaf nachzuholen. Gestern wollte ich dich echt anrufen. Aber dann bin ich dazu gekommen, meine Post zu lesen, und habe erfahren, dass ich dich heute Morgen sowieso hier treffe.“
Bevor sie sich dazu äußern konnte, öffnete sich die Haustür erneut, und Heston Searle rief: „Was wollen Sie denn hier?
Großer Gott, was hat der inkompetente alte Narr nur getan!“
Valerie verdrehte die Augen und entgegnete schroff: „Edwin war nicht inkompetent.“
„Ach nein?“ Mühsam begann Heston, die Stufen zu erklimmen. „Warum hat er dann ein Testament geschrieben, obwohl ein Treuhandverhältnis in der Familie besteht? Das ist übrigens unanfechtbar. Also denken Sie nicht mal daran, dass Sie sich ein Scheibchen abschneiden könnten.“
„Sparen Sie sich den Atem“, entgegnete Ian. Er nahm Valerie am Arm und zog sie förmlich die Treppe hinauf.
Wie sich herausstellte, brauchte Heston all seinen Atem für die Treppe. Schwer keuchend erreichte er die Kanzlei eine halbe Minute später als Valerie und Ian, die sich bereits zu Avis und Sierra gesetzt hatten. Heston starrte alle Anwesenden finster an, strich sich über das dünne, ölige Haar und sank auf den nächsten Stuhl bei der Tür.
Eine Sekunde später betrat der Anwalt mit einem Stapel Papiere den Raum. Corbett Johnson schien schon seit Urzeiten in diesem beengten Büro zu residieren und schon immer in mittlerem Alter zu sein – mit leichter Stirnglatze, distinguiert ergrauten Schläfen und Krähenfüßen in den Augenwinkeln. Das Zittern seiner fleckigen Hände jedoch deutete auf ein wesentlich höheres Alter, und wenn er seine riesige Brille aufsetzte, die momentan in seiner Brusttasche steckte, erinnerte er an eine Eule und büßte beträchtlich an Distinguiertheit ein.
Er begrüßte jeden im Raum mit Händedruck und nannte jeden beim Namen. Sie alle hatten irgendwann schon mal mit ihm zu tun gehabt. Er hatte Sierras Scheidung und die Details nach dem Tod von Avis’ Mann und Valeries Vater geregelt.
„Sehr gut. Damit sind alle anwesend.“ Er ging um den Schreibtisch herum, setzte sich und verteilte die Papiere auf sechs Stapel. „Nun dann, fangen wir gleich an.“
Heston erklärte lautstark: „Ich will von vornherein klarstellen, dass ich gegen diese Sache bin. Mein Onkel hatte sehr wenig Macht über das Treuhandvermögen – gerade genug, um zu verhindern, dass ich zu seinen Lebzeiten darüber verfügen konnte. Was immer Sie ihm auch eingeredet haben mögen, er hatte keinen Anlass zu …“
„Halten Sie den Mund, Heston“, warf der Anwalt streng ein. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass das Treuhandverhältnis bestehen bleibt.“
„Wozu sind wir dann hier? Der Alte hatte nicht mal vernünftige Kleidung zum Wechseln. Ich wusste nicht, dass er überhaupt einen Willen hatte.“
Corbett Johnson faltete die zitternden Hände und lächelte – ein wenig kühl. „Das hatte er auch nicht – einen Willen, meine ich. Bis vor kurzem. Ian, ich muss Ihnen nochmals danken, dass Sie ihn hierher gebracht haben.“
Alle Blicke richteten sich auf Ian, der nur mit ernster Miene nickte.
„Sie haben meinen Onkel hergebracht?“, fuhr Heston ihn an. „Sie stecken also dahinter! Mit welchem Recht mischen Sie sich in die Familienangelegenheiten anderer Leute?“
Verärgert entgegnete Corbett: „Ian hat lediglich ein Bedürfnis erkannt und sich darum gekümmert, was man von Ihnen als Familienmitglied leider nicht sagen kann. Ich schlage vor, dass Sie sich jetzt beruhigen, Herr Bürgermeister. Edwin hat einige Überraschungen für Sie auf Lager.“ Er blickte in die Runde. „Für Sie alle.“
Mit zusammengebissenen Zähnen sank Heston in sich zusammen. Valerie blicke Ian fragend an. Was ging hier vor?
Corbett räusperte sich und setzte sich die Brille auf. Dann nahm er ein Dokument von dem
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