JULIA COLLECTION Band 12
Menschen, abgesehen von dem alten Schnapsbrenner, den sie flüchtig gesehen hatte.
Sie erwartete keinen Besuch. Nur ihre Familie wusste, dass sie hier war. Und trotzdem näherte sich ein Auto. Dabei war die lange, schmale Auffahrt so abgeschieden, dass niemand sie durch Zufall entdecken konnte.
Als Gaylynn zum Fenster hinausspähte, dankte sie im Stillen ihrem Bruder dafür, dass er die Außenbeleuchtung hatte installieren lassen. Die Auffahrt war hell erleuchtet, und da war wirklich ein Wagen. Einer, den sie nicht kannte.
Die Tür ging auf, und ein Mann stieg aus. Er hatte dunkles Haar. Als er sich zur Hütte umdrehte, sah Gaylynn sein Gesicht.
Ihre Angst verwandelte sich in Zorn. Sie riss die Tür auf und trat dem Mann entgegen, der gerade die Stufen zur Veranda hinaufstieg.
„Was tust du denn hier?“, wollte sie wissen.
„Ist das eine Art, einen alten Freund zu begrüßen?“ Hunter Davis lächelte.
2. KAPITEL
Gaylynn hatte Hunter Davis seit zehn Jahren nicht gesehen, doch in vielerlei Hinsicht schien es ihr, als wäre es erst gestern gewesen. Sein dunkles Haar war länger, als sie es in Erinnerung hatte, und an den Schläfen ein bisschen grau. Aber seine Augen waren genauso wie damals, leuchtend grün, wie Blätter im Frühling.
„Willst du mich nicht reinbitten, Red?“, fragte er.
Sie hatte den Spitznamen schon als Teenager gehasst, und jetzt lehnte sie ihn noch genauso ab. Hunter hatte sie zuerst so genannt, als sie sich mit dreizehn Jahren das Haar mit Henna gefärbt hatte, um den Mann zu beeindrucken, der für sie „der einzige auf der ganzen Welt“ war. Hunter hatte nicht gewusst, dass er das war. Er war achtzehn gewesen, fünf Jahre älter als sie, und ihrer Meinung nach einfach perfekt.
Als sie ihn jetzt sah, wurde ihr klar, wie sehr sie sich damals geirrt hatte. Inzwischen war er wirklich ein Mann. Nicht perfekt vielleicht, aber beeindruckend. Neben den Augen hatte er nun kleine Fältchen. Es war ein zu kraftvolles Gesicht, als dass man ihn hätte attraktiv nennen können, aber es erregte die Aufmerksamkeit einer Frau stärker, als oberflächliches gutes Aussehen das gekonnt hätte.
Als Gaylynn braunes Haar damals durch ihr Experiment mit Henna knallrot geworden war, hatte Hunter angefangen, sie Red zu nennen. Trotzdem war sie hinter ihm und ihrem Bruder hergelaufen. Sie war verliebt gewesen, sosehr ein Teenager das überhaupt sein konnte.
Und als Hunter mit fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatte, hatte sie ein paar Tränen vergossen. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie geweint hatte. Bis vor einem Monat.
„Was tust du hier, Hunter?“, wollte sie wissen.
Statt zu antworten, musterte er sie. „Was ist los mit dir? Du siehst schrecklich aus.“
Sie wurde rot. Ihr war klar, dass ihre Kleidung zerknautscht war. Ihre Jeans waren an den Knien schmutzig, weil sie sich hingekniet hatte, um die streunenden Katzen zu füttern. Eigentlich hatte sie nach ihrem späten Lunch duschen wollen, aber sie war abgelenkt worden. Schon seit Stunden hatte sie ihr Haar nicht mehr gebürstet, und wahrscheinlich steckten auch ein paar Zweige drin von ihrem Spaziergang zum Waldrand. „Ich habe keinen Besuch erwartet. Geh weg“, murmelte sie verlegen. „Komm später wieder.“ Dabei versuchte sie ihn zurückzuschieben.
Ebenso gut hätte sie versuchen können, einen Berg von der Stelle zu bewegen. „Ich gehe nirgendwohin, solange ich nicht weiß, was mit dir los ist.“
„Nichts ist los. Ich bin im Urlaub, okay? So sehe ich aus, wenn ich Ferien habe. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen!“ Ihr berüchtigtes ungarisches Temperament flammte auf. Sie lief ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Dann blickte sie in den Spiegel und merkte, dass Hunter recht hatte. Sie sah wirklich schrecklich aus. Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen, das Haar gebürstet und etwas Lippenstift aufgelegt hatte, öffnete sie die Tür wieder.
Natürlich wartete Hunter direkt davor. Wie sie es sich gedacht hatte.
„So, ist das besser?“ Sie drehte eine Pirouette.
„Ich habe nicht von deinem Haar geredet, sondern von deinen Augen.“
„Ich habe nicht viel geschlafen …“
„Das ist es nicht“, unterbrach er sie. Dann griff er nach ihrem Kinn und hob ihren Kopf ein bisschen an. „Da ist so ein gewisser Ausdruck …“
Sie schloss die Augen. Fest. Aber dadurch spürte sie seine Finger noch stärker an ihrer Haut. Plötzlich war es, als wäre sie wieder dreizehn und völlig in ihn verknallt.
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