JULIA COLLECTION Band 12
Alter von vierzehn. Aber sie war an dem Seil hochgeklettert, das den einzigen Zugang bot, und das, obwohl sie leicht unter Höhenangst litt. Ihre Hände hatten geblutet, und Hunter wusste, dass sie immer noch eine Narbe zwischen Daumen und Zeigefinger hatte – ihre Tapferkeitsmedaille, wie sie die Stelle früher genannt hatte.
Inzwischen hatte sie sich verändert. Irgendwie hatte er immer noch ein Bild von ihr als linkischem Teenager im Kopf gehabt. Doch nun stand er einer erwachsenen Frau gegenüber, einer sehr attraktiven, wenn auch schmutzigen Frau. Ihn überkam ein ganz seltsames Gefühl, wenn er sie ansah …
„Wieso starrst du mich so an?“, erkundigte sie sich unbehaglich.
„Ich habe daran gedacht, wie du uns in unserem geheimen Baumhaus besucht hast. Erinnerst du dich?“
„Ja.“ Sie blickte auf ihre Hand hinunter, die mit der kleinen Narbe. Jetzt hatte sie noch eine weitere Narbe, an ihrer Kehle, von dem Messer, und zusätzlich eine große an ihrer Seele.
Sie hatte mehr verloren als nur die dreizehn Dollar und einundzwanzig Cents, die sie damals bei sich gehabt hatte. Ihr war ihr Mut abhandengekommen.
Das war nicht in dem einen Moment geschehen. Unmittelbar nach dem Überfall war es ihr wichtig gewesen, dafür zu sorgen, dass niemand von der Polizei ihrem Bruder davon erzählte, obwohl er immer noch einige Verbindungen von seiner Zeit auf der Polizeiakademie hatte. Als sie dann nach Hause fuhr, hatte sie sich bemüht, das Ganze zu verdrängen. Und zuerst hatte sie geglaubt, das würde ihr gelingen.
Dann hatte sie die Fernsehnachrichten gesehen. Das war so entsetzlich gewesen, dass sie angefangen hatte zu weinen. Am nächsten Morgen hatte sie die Zähne zusammengebissen und war wieder zur Arbeit gegangen. Doch als sie ihr Klassenzimmer betreten hatte, waren ihr wieder kalte Schauder über den Rücken gelaufen. Sie hatte nicht sprechen und sich auch nicht bewegen können. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie vor Angst wie gelähmt gewesen.
Hunter wusste natürlich nicht, woran sie dachte. „Du hast dich damals vor gar nichts gefürchtet“, meinte er voller Bewunderung.
Ihr war klar, wie wichtig ihm Mut war, und sie wünschte sich, sie hätte noch welchen. Doch ihren Stolz besaß sie. Sie wollte nicht, dass Hunter merkte, wie verängstigt sie war. Er sollte sie nicht bemitleiden. Also musste sie ihn loswerden. „Ich würde ja gern mit dir über alte Zeiten reden, aber eigentlich wollte ich mir gerade was zum Dinner machen …“
„Großartig. Ich habe noch nichts gegessen.“
„Ich habe nicht genug Lebensmittel für zwei.“
„Dann können wir zu mir gehen. Ich habe eine Menge.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich will nicht weggehen.“
„Dann bringe ich die Sachen her. Ich habe dich ja seit Jahren nicht gesehen. Es wird Spaß machen, über das zu sprechen, was inzwischen geschehen ist.“
Gaylynn dachte, dass es ihr Spaß gemacht hätte, ihn zu küssen. Doch sie verdrängte diesen Gedanken ganz schnell wieder. Was war nur los mit ihr? Hatte sie noch nicht genug Probleme mit all ihren Albträumen und der Angst? Nun musste sie auch noch sentimental werden wegen eines Mannes, für den sie vor Jahren geschwärmt hatte. Einem, der sie immer wie eine Schwester behandelt hatte.
„Ich kann gut Spaghettisoße kochen“, erklärte Hunter in verführerischem Südstaaten-Tonfall.
„Da bin ich sicher. Aber …“
„Ich komme gleich mit den Zutaten zurück.“
Er war weg, bevor sie weiter protestieren konnte.
Die gute Nachricht war, dass er verschwunden war, bevor sie sich zum Narren machen konnte. Die schlechte bestand darin, dass er zurückkommen würde. Und dann sollte sie besser bereit sein für ihn. Nur leider zweifelte Gaylynn daran, dass sie jemals bereit sein konnte für einen Mann, der eine noch größere Gefahr für ihren sowieso schon erschütterten Seelenfrieden darstellte.
Hunter hatte eigentlich nur kurz nach Gaylynn sehen und dann wieder gehen wollen. Er wusste nicht, wieso er plötzlich darauf bestanden hatte, mit ihr zu essen. Vielleicht lag es an dem Ausdruck in ihren großen braunen Augen, die früher immer lebhaft geglänzt hatten. Natürlich war seit damals eine Menge geschehen …
Wie alt war Gaylynn jetzt? Fast dreißig. Er selbst war gerade fünfunddreißig geworden. Hunter wunderte sich immer darüber, wie schnell die Zeit verging. Eigentlich hatte er vorgehabt, stärker in Verbindung zu bleiben mit Michael, aber in den meisten Jahren hatte er bloß eine
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