JULIA COLLECTION Band 12
ihrer Kehle, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. „Nicht richtig, nein. Er hat mich mit einem Messer bedroht. Er war bloß ein Junge, der auf Drogen war. Ich wusste nicht, was er tun würde. Ich habe ihm das ganze Geld gegeben, das ich hatte, und er lief weg. Dabei erkannte ich ihn. Ich rief die Polizei an …“
„Wie kommt es dann, dass Michael nichts davon weiß?“, unterbrach Hunter sie.
„Weil ich dafür gesorgt habe, dass niemand von der Polizei es ihm erzählt. Mein Bruder hatte zu der Zeit genügend eigene Probleme. Es war nicht nötig, dass er sich auch noch Sorgen um mich machte.“
„Jemand sollte das aber tun“, meinte Hunter.
Sie sah ihn finster an.
„In Ordnung, in Ordnung.“ Er hob beide Hände, als Zeichen dafür, dass er den Mund halten würde. Vorläufig jedenfalls. „Sprich weiter. Ist der Junge gefasst worden?“
„Er … er wurde am nächsten Tag getötet. Ich kam von der Schule nach Hause und sah es … im Fernsehen. Er floh zu Fuß. Die Polizei war hinter ihm her, und er rannte direkt vor einen Bus. Er war sofort tot.“ Gaylynn bekam nun kein Wort mehr heraus, konnte nicht von dem Blut reden, konnte die Erinnerung nicht ertragen.
„Und du hast versucht, mit alldem allein fertig zu werden?“, fragte Hunter.
„Nein, als ich anfing zu weinen und nicht mehr aufhören konnte, wusste ich, dass ich Hilfe brauchte. Ich bin zu einer Psychotherapeutin gegangen. Vom Verstand her kenne ich all die Gründe, warum ich mich so fühle, wie ich das tue. Die Heilung braucht bloß etwas Zeit.“
„Und deshalb bist du hergekommen?“
Sie nickte.
„Es war dumm von dir zu versuchen, das allein zu verarbeiten“, erklärte Hunter mit der Offenheit, die für ihn typisch war. „Du hättest es deiner Familie und deinen Freunden erzählen sollen.“
Sein Großer-Bruder-Ton ärgerte sie. „Meine Mitbewohnerin in Chicago weiß Bescheid. Ich teile mir mit ihr ein Apartment in der Nähe vom Lincoln Park. Schließlich musste ich ihr erklären, warum ich für ein paar Wochen wegfahren wollte. Vor meiner Abreise habe ich meinen Anteil an der Miete bis zum Ende des Schuljahres bezahlt. Dann läuft unser Mietvertrag sowieso aus. Ich hatte alles unter Kontrolle, bis du aufgetaucht bist.“ Und mich geküsst hast, bis ich nicht mehr denken konnte, fügte eine kleine Stimme in ihrem Kopf hinzu. „Alles wird wieder in Ordnung sein, sobald ich Zeit hatte, mich auszuruhen und zu erholen. Ich unterrichte seit sieben Jahren. Wahrscheinlich hatte ich die Pause nötig. Vielleicht ist das die Art des Schicksals, sicherzustellen, dass ich eine mache.“
Hunter musterte sie aufmerksam. „Du denkst doch nicht, dass du in irgendeiner Weise für den Tod des Jungen verantwortlich bist, oder?“
„Wieso sagst du das?“
„Ich kenne dich.“
„Nicht so gut, wie du glaubst“, widersprach sie.
„Vielleicht nicht“, gab er zu. „Aber gut genug, um zu wissen, dass du der Typ von Frau bist, der um jeden trauert, der sein Leben verloren hat. Und sicher ganz besonders, wenn es sich um einen deiner Schüler handelt. Michael hat sich immer darüber beschwert, dass du Überstunden machst, von deinem eigenen Geld Material kaufst und dir Zeit nimmst, um diesen Kindern das Gefühl zu vermitteln, sie wären wichtig.“
„Sie sind wichtig. Kinder sind unsere Hoffnung für die Zukunft. Und um deine Frage zu beantworten: Ich weiß, dass ich genau genommen nicht für Duanes Tod verantwortlich bin.“ Ihre Empfindungen waren eine andere Sache. Sie weigerte sich, ihr geheimes Schuldgefühl einzugestehen, die Vorstellung, dass Duane Washington womöglich heute noch am Leben wäre, wenn sie sich anders verhalten und an diesem Tag nicht länger in der Schule geblieben wäre. Damit versuchte sie immer noch klarzukommen. Die Polizei hatte ihr gesagt, dass jemand anders Duane angezeigt hätte, wenn sie es nicht getan hätte. Dieser Überfall war nicht seine erste Straftat gewesen. „Ich wünschte nur, ich hätte es irgendwie verhindern können.“ Das war auf jeden Fall wahr. „Aber du weißt, wie ich bin. Ziemlich hart. Ich werde bald wieder unterrichten.“ Sie wollte Hunter mit diesen Worten beruhigen, dafür sorgen, dass er aufhörte, sich Gedanken um sie zu machen. „Ich brauche nur im Moment eine Pause. Zeit, um mich zu entspannen, die friedliche Berglandschaft zu genießen und vielleicht ein bisschen zu zeichnen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du zeichnest.“
„Ich wusste es selber nicht“, erwiderte sie
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