JULIA COLLECTION Band 20
diesem Schaukelstuhl gesessen“, sagte Kell leise, als er die Tür zum Dachboden schloss. „Ich weiß ja nicht, ob Blalock es Ihnen erklärt hat oder nicht, aber mein Dad und Onkel Harvey hatten dieselbe Mutter.“
„Das haben Sie schon zwei Mal erwähnt.“ Onkel Harvey? Daisy erkannte genau, was dieser Mann vorhatte. Er wollte seine Ansprüche geltend machen, aber es lag nicht an ihr zu entscheiden, ob diese Ansprüche gerechtfertigt waren.
Auf dem frisch gewachsten Holzboden des ersten Stocks quietschten die Gummisohlen von Daisys Schuhen bei jedem Schritt. Die Cowboystiefel des Mannes klangen im Vergleich dazu wie ein Flüstern.
„Harvey war eher mein Halbonkel“, stellte er klar. „Jedenfalls sagt Blalock, Harvey habe nie geheiratet, also war es bestimmt meine Großmutter, die diese Truhe dort hinaufgebracht hat.“
„Meinen Sie?“ Ich hätte ihn gleich wieder wegschicken sollen, als er hier aufgetaucht ist, dachte sie. Soll Egbert sich mit ihm auseinandersetzen, das gehört nicht zu meinem Job.
„Glauben Sie, da oben könnten auch noch ein paar Fotos ihrer beiden Söhne sein?“
Darauf wusste Daisy keine Antwort. Von ihr aus konnte er alle Fotos bekommen, die er haben wollte. Oder auch den Karton mit den alten Stoffresten. Sollte Egbert doch Harveys Testament durchgehen und feststellen, was diesem Mann zustand.
Wenn er glaubte, sie mit seinem Charme weichklopfen zu können, dann täuschte er sich gewaltig. Gegen männlichen Charme war Daisy mittlerweile immun. Ihren Zusammenbruch dort oben hatte sie nur deshalb erlitten, weil der heutige Tag so entsetzlich verlaufen war.
Daisy wandte sich der Küche zu. Sollte sich doch Faylene mit ihm abgeben. Sein Duft nach Leder und Mann und die leisen Geräusche seiner Schritte folgten ihr.
„Finden Sie es nicht auffallend, dass die Namen Harvey und Evander beide ein V enthalten? Schließlich gibt es nicht viele Namen mit einem V.“
„Victor? Vance? Vaughn? Virginia? Virgil?“
„An die hatte ich nicht gedacht. Scrabble sollte ich mit Ihnen wohl lieber nicht spielen.“
Falls er mit seinem Lächeln versuchte, ihren Widerstand zu brechen, dann hatte er damit keinen Erfolg. „Ich spiele keine Spiele.“
Sein Lächeln ging in ein Grinsen über. „Verstehe.“
Immer noch standen sie beide reglos da, als etwas an die Hauswand schlug.
„O nein!“, rief Daisy. „Das war bestimmt ein Vogel. Ich sehe mal lieber nach, ob er sich verletzt hat. Manchmal spiegelt die Sonne sich am späten Nachmittag in den großen Scheiben, und dann …“
Hastig lief sie zur Haustür, als das Geräusch wieder erklang. Kell und Daisy verharrten und schauten sich an. Dann sahen sie beide in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
„Oben“, sagte er.
„Draußen“, sagte sie.
„Vielleicht ein Ast. Es ist windiger geworden.“
„Mist, dann kann ich gleich wieder Laub harken. Den Garten hatte ich vollkommen vergessen.“
Sie liefen beide nach draußen und suchten im Gras nach einem Vogel. Überall lagen abgerissene Zweige und Kiefern- und Tannenzapfen herum.
„Hatte Harvey keinen Gärtner?“
„Direkt nach dem Sturm kamen Aufräumtrupps. Die haben alles mitgenommen, was Faylene und ich an den Straßenrand schleifen konnten. Wir haben die Veranden und die Auffahrt geräumt, aber zu mehr sind wir nicht gekommen.“
„Für die Gartenarbeit sind Sie auch zuständig? Ich dachte, Sie seien Krankenschwester.“
Daisy zuckte mit den Schultern. „Solange ich hier mietfrei wohnen kann, versuche ich, mich nützlich zu machen. Jedenfalls ist es im Moment einfacher, alles selbst zu erledigen, als jemanden zu finden, der sich um diese Arbeiten kümmert.“
„Und was ist mit den Regenrinnen?“ Kell war wieder eingefallen, dass eine davon schräg vom Dach hing.
„Die Regenrinnen! Verdammt, ich habe Egbert gesagt, dass die repariert werden müssen, aber er meinte, sämtliche Reparaturen könnten warten, bis der Nachlass geklärt ist.“
„Und wann wird das sein?“
„In sechs Monaten. Ungefähr. Egbert muss jedenfalls noch abwarten, ob sich Gläubiger melden oder sonst irgendwelche …“ Sie brach ab, doch Kell beendete den Satz für sie.
„Oder sonst jemand, der Ansprüche stellt. Keine Sorge, das werde ich sicher nicht.“ Er sah ihren skeptischen Blick, doch er ging nicht weiter darauf ein. „Das ganze Haus ist ziemlich verwahrlost, stimmt’s?“
Ganz flüchtig lächelte sie ihn an. Ihre Nasenspitze war noch leicht gerötet, doch das machte sie
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