Julia Collection Band 57
ja sein, dass die Hunde in der Scheune Unterschlupf gefunden haben. Und die Treppenstufe, die ich reparieren will, muss auch ausgemessen werden.“
Er prüfte den Sonnenstand und zog kurz an den Zügeln, damit sein Pferd sich in Bewegung setzte. „Gut eine Stunde ist es noch hell, Diablo. Das reicht.“
Diablo setzte über den Zaun, und Lincoln genoss es, als er gleich darauf über den Waldweg galoppierte, der vor hundert Jahren der Fahrweg der Stuarts in die Stadt gewesen war.
In Sichtweite der Farm verlangsamte Lincoln sein Tempo. Andernfalls würde er die Hunde verscheuchen, falls die sich tatsächlich auf der Farm eingenistet hatten.
Vorsichtig ritt er näher.
Und hielt unvermittelt an. „Was zum Henker ist denn das?“
Er beugte sich vor, um besser durch die Bäume spähen zu können. Ja, es war Licht, das er dort im Farmhaus brennen sah.
Oder bildete er sich das nur ein? Spiegelte sich vielleicht nur die Sonne in den Fensterscheiben? War es der Schein einer Taschenlampe, weil jemand in das nicht verschlossene Haus eingedrungen war?
Durchaus möglich. Doch das Quietschen einer rostigen Türangel war keine Sinnestäuschung. Und auch nicht die Frau, die da auf die Veranda trat. Ihr Haar schimmerte wie Gold, als sie wegen des Sonnenlichts die Augen beschattete und sich umsah.
„Lindsey?“, flüsterte er fassungslos und ließ den Blick über sie gleiten. Behutsam suchte er zunächst nach Veränderungen, die die Zeit bewirkt hatte. Dann nach Merkmalen, die sechs lange Jahre nicht aus seiner Erinnerung zu löschen vermocht hatten.
Sie trug ihr Haar immer noch lang. Immer noch mit einer Spange aufgesteckt, die keine Chance hatte, die üppigen Locken zu bändigen. Und immer noch strich sie sich mit einer ungeduldigen Geste die widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Das Kinn reckte sie immer noch energisch vor, während ihr Lächeln kindlich-fröhlich und sinnlich zugleich wirkte. Lincoln fragte sich, ob sie sich immer noch auf die Unterlippe biss, wenn sie sich konzentrierte oder etwas sie beunruhigte.
Widerstrebend löste er den Blick von ihrem schönen Mund, um die Lindsey aus Fleisch und Blut mit seinem inneren Bild von ihr zu vergleichen.
Mit gestrafften Schultern stand sie da, sodass man ihr kaum ansah, dass sie höchstens eins fünfundsechzig war, wohl aber, dass ihre Brüste voller geworden waren. Ihre mädchenhaften Figur hatte die verführerischen Rundungen einer reifen Frau bekommen, und ihre Taille wirkte dadurch noch schmaler.
Für die meisten Leute war Lindsey immer ein hübsches Mädchen gewesen, voller Elan und Mut. Lincoln dagegen fand sie von Anfang an atemberaubend. Und jetzt erschien sie ihm schöner denn je. Er konnte kaum glauben, dass sie wirklich dort auf der Veranda stand.
Genau wie er kaum glauben konnte, dass er, nachdem er in ganz Oregon und Montana nach ihr hatte suchen lassen, sie hier antraf. Genau da, wo sie hingehörte, in Lucky Stuarts Haus in South Carolina.
Wie lange war sie schon hier? Eine Woche? Zwei? Wie lange nach seiner letzten Stippvisite auf der Farm war sie angekommen? „Wann hättest du es mich wissen lassen, Lindsey?“
So erleichtert er war, dass sie hier war, so heftig wurde Lincoln plötzlich von Wut gepackt. Wut auf sich selbst, dass ihn das alles überhaupt interessierte. Dass sie ihn interessierte.
Jahrelang hatte er sich größte Mühe gegeben, die Vergangenheit nüchtern und sachlich zu sehen. Angefangen von der leidenschaftlichen Liebesstunde in der von Flammen eingeschlossenen Hütte in einem Wald in Oregon bis hin zu dem Tag, an dem er die vaterlose Lindsey zum Altar führte, um sie Lucky zur Frau zu geben. Und er hatte geglaubt, das alles endlich überwunden zu haben.
Bis er die Briefe erhielt. Da war ihm klar geworden, dass sein innerer Kampf und sein vermeintlicher Sieg nur eine Farce waren.
Aber Farce hin oder her, er war mit seinem Leben zufrieden und wollte sich nicht durch die Erinnerung an die Vergangenheit aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Als er begonnen hatte, nach Lindsey zu suchen, hatte er nicht an diesen Augenblick gedacht, sondern nur daran, den letzten Wunsch eines sterbenden Freundes zu erfüllen. Doch jetzt, nach einem Monat intensiver Suche, die ihn ein kleines Vermögen gekostet und ihm viele Enttäuschungen beschert hatte, war er versucht wegzureiten, als hätte er Lindsey nie getroffen.
Aber so groß die Versuchung auch war, er hatte noch nie ein Versprechen gebrochen, das er Lucky gegeben hatte. Also
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