Julia Collection Band 57
Tiger?“
„Klar“, erwiderte der Junge ernst, und dann brach er in Gelächter aus, ein Zeichen, dass das ein altes Spielchen war.
Schwungvoll schob Lindsey ihren Sohn durch die Tür. Sie selbst drehte sich noch einmal um. Einen Moment lang hatte Lincoln das Gefühl, sie würde ihn direkt ansehen, obwohl das wegen der dichten Baumgruppe, hinter der er stand, gar nicht möglich war.
Aufmerksam ließ sie den Blick vom Waldrand zum Bach schweifen, dann zum Ende des Waldwegs. Aber Lindsey war neu in der Gegend – sie konnte nicht wissen, dass dies der Pfad war, den er, Lincoln, in seinen Erzählungen scherzhaft als seinen Fluchtweg bezeichnet hatte. Und erst recht nicht, dass jemand ihn wieder einmal benutzt hatte, um zur Farm zu gelangen.
Beruhigt, dass niemand in der Nähe war, ging Lindsey schließlich ins Haus.
Erst als es im Farmhaus ruhig geworden war und nur noch ein Licht in Frannie Stuarts ehemaligem Schlafzimmer brannte, ritt Lincoln nach Belle Rêve zurück. Nachdem er seinem Vater eine kleine Weile Gesellschaft geleistet hatte, fuhr er heim.
Sein Zuhause in dieser betriebsamen kleinen Stadt, die tief in alten Südstaaten-Traditionen verwurzelt war, lag in einer ruhigen Sackgasse am Stadtrand von Belle Terre. Es war ein schmales Einzelhaus im historischen Stil, dessen Garten durch eine Mauer abgeschirmt war. Da Lincoln seine Zeit gegenwärtig zwischen Belle Terre und Belle Rêve aufteilte – und nach dem Schlaganfall seines Vaters deutlich mehr Zeit auf der Plantage verbrachte –, genügte ihm das Häuschen völlig.
Als er eine Stunde später durch den mondbeschienenen Garten ging, merkte Lincoln, wie sehr er die Ruhe und Abgeschiedenheit vermisst hatte. Hier war sein Refugium. Doch heute konnte er sich nicht darüber freuen. Er war viel zu aufgewühlt. Lindsey und der Junge gingen ihm nicht aus dem Sinn.
Die Eiswürfel klirrten in seinem Glas, als er es von einem schmiedeeisernen Tisch nahm. Er leerte es in einem Zug, und dann schenkte er sich noch einen Drink ein.
„Lindsey, der Junge und Brownie“, murmelte er vor sich ihn. Seine Stimme klang belegt, und er fragte sich, ob er von einem einzigen Drink schon betrunken war. Wenn nicht, dann schaffte das hoffentlich der zweite.
Der Junge. Immer und immer wieder gingen ihm diese beiden Worte durch den Kopf. Der Kleine hieß Cade. Doch aus unerfindlichen Gründen brachte Lincoln es nicht über sich, Lindseys Sohn bei seinem Namen zu nennen.
Lincoln ließ sich auf einen Stuhl fallen und nahm erneut sein Glas zur Hand. Er hielt es gegen die alte Gaslaterne auf dem Tisch und beobachtete, wie deren Licht seinen bernsteinfarbenen Scotch zum Leuchten brachte. Wie Feuer, die Urgewalt, die ihrer aller Leben verändert hatte. Abrupt setzte Lincoln das Glas ab.
„Wer ist er, Lindsey? Warum hat er dunkles Haar, wo Lucky doch noch helleres hatte als du? Wer gab ihm meinen Namen?“ Lincoln holte tief Luft. „Und warum?“ Er stützte den Kopf auf beide Hände. Abgesehen vom Geplätscher des Springbrunnens und gelegentlichen Schritten auf der Straße war es still ringsum.
Lincoln hätte nicht sagen können, wie lange er reglos dagesessen hatte, als er sich von alten Erinnerungen losriss und sich einen dritten Drink genehmigte.
Es war ihm egal, ebenso, dass es schon sehr spät war. Er war viel zu rastlos zum Schlafen. Zu verwirrt. Er hatte das Gefühl, sein Schmerz laste wie ein Bleigewicht auf seiner Brust. Emotionen, die er nicht verstand und mit denen er nicht umgehen konnte, zerrissen ihn beinah.
„Verdammt“, murmelte er, ehe er noch einen Schluck Scotch trank. Seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr so viel getrunken. „Ich bin doch der ernste, pragmatische Cade. Der scharfsinnige Cade, der auf alles eine Antwort weiß. Das behaupten jedenfalls alle. Ja“, spottete er. „Genauso ist es. Und warum weiß ich dann jetzt keine Antwort?“
Er war der zweite von vier Söhnen, die Caesar Augustus Cade von vier verschiedenen Frauen bekommen hatte. Lincolns Mutter war Schottin. Da hatte sie ihm doch sicher die praktische Art der Schotten vererbt, auch wenn sie zu jung gestorben war, um ihn entsprechend zu erziehen. Unsanft stellte Lincoln sein Glas auf den Tisch. Er stand auf und sah sich in seinem Refugium um. Genau wie damals die Stuart-Farm, war das hier der Ort, an den er sich zurückzog, wenn ihm das Zusammenleben mit einem Vater wie Gus zu viel wurde. Oder wenn er Sorgen hatte.
„Und wohin gehe ich jetzt?“, überlegte er laut. Die
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