Julia Collection Band 57
Erinnerungen ließen ihn einfach nicht los, und er fand einfach keine Antworten auf seine Fragen. Wie sollte er nur mit seinem Schmerz und seinen Schuldgefühlen fertig werden?
„Was ist mit dem Jungen?“
Sein Flüstern schien im stillen Garten widerzuhallen. Immer wieder hörte er dieselbe Frage: „Was ist mit dem Jungen?“
Gelächter von der Straße her durchbrach den Bann. Es waren Erwachsene, doch Lincoln hörte automatisch das Lachen eines Kindes.
Die Frage war, wessen Kindes.
Als ihm auf dem Weg ins Haus klar wurde, dass er für eine ganze Weile keinen Frieden mehr in seinem Garten finden würde, wusste Lincoln, was er zu tun hatte.
Für Lucky, für Lindsey, für sich selbst.
Und für den Jungen.
3. KAPITEL
„Sieh mal, Mom.“
Lindsey, die gerade dabei war, eine Liste von allen notwendigen Reparaturen im Haus und in der Scheune zu erstellen, fragte sich schmunzelnd, welche neue Entdeckung Cade wohl gemacht hatte. Seit sie vor drei Tagen auf die Stuart-Farm gekommen waren, erklärte er ihr jeden Abend vor dem Einschlafen begeistert, er fände es hier „supertoll“.
„Was gibt’s denn, Cade?“ Als sie aus der Scheune ins Freie trat, war sie von der Sonne ganz geblendet.
Der Junge deutete Richtung Bach. „Wir kriegen Besuch.“
Gebannt beobachtete Lindsey, wie ein Kleinlaster mühelos die seichteste Stelle im Bach durchfuhr. Wer würde sie denn so früh am Tag besuchen? Nur die Energieversorgungsunternehmen wussten, dass Lucky Stuarts Witwe und ihr Sohn auf der alten Stuart-Farm eingezogen waren. Das konnte sich unmöglich so schnell herumgesprochen haben. Sie war noch nicht mal zum Einkaufen in Belle Terre gewesen.
„Wer ist das?“ Wenn sie ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt hätte, wäre Cade dem Besucher gleich entgegengelaufen. „Kennst du ihn?“
„Nein, und ich kann mir nicht denken, warum uns jemand so früh besuchen kommt. Es sei denn …“ Lindsey brach ab, weil ihr das Pferd und der Reiter einfielen, die sie Cades lebhafter Fantasie zugeschrieben hatte. Als der Wagen näher kam, erkannte sie, dass ausgerechnet der Mann am Steuer saß, dem sie nur allzu gern aus dem Weg gegangen wäre. Zumindest so lange, bis sie sich in Luckys Haus eingelebt hatte.
„Was meinst du, Mom?“
Lindsey wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch sie wurde einer Antwort enthoben, als der Kleinlaster vor der Verandatreppe hielt, die Fahrertür aufschwang und ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann ausstieg. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, wo sie war, wie gebannt von diesem Mann und seiner faszinierenden Ausstrahlung.
Er war größer als die meisten Männer und schlank. Doch als er sich in den Wagen beugte, um Handschuhe herauszuholen, schienen seine breiten Schultern beinah die Nähte seines Hemdes zu sprengen. Er hatte lange Beine, die durch seine perfekt sitzende Jeans und seine Stiefel noch betont wurden. Sein kurz geschnittenes Haar war unter seinem Cowboyhut kaum zu sehen. Doch im Nacken lugte, woran Lindsey sich nur zu genau erinnerte, ein kleiner Wirbel unter seinem Hut hervor.
Ehe er gleich darauf seine Arbeitshandschuhe anzog, kreuzten sich ihre Blicke. Auch wenn er sie ausgesprochen kühl musterte, stellte Lindsey einmal mehr fest, wie gut Lincoln aussah. Auch Cade schien von seiner einzigartigen Ausstrahlung hingerissen.
Du solltest ihn nicht zu sehr mögen, hätte sie ihm am liebsten zugeflüstert, sonst bricht er dir auch das Herz. Doch nach allem, was ihr Sohn in seinem jungen Leben erlebt hatte, war es für diese Warnung zu spät.
Cade hatte längst gelernt, diesen Mann zu lieben und seine besondere Art zu bewundern. Und als er jetzt auf sie zukam, war Lindsey absolut klar, dass ihr Sohn den Lincoln Cade aus Fleisch und Blut noch glühender lieben und bewundern würde als das Bild von ihm, das Lucky Stuart ihm durch seine Erzählungen vermittelt hatte.
„Lindsey.“ Zur Begrüßung nannte er sie nur leise beim Namen und tippte dabei kurz an seinen Stetson. Seine schönen grauen Augen ruhten auf ihrem Gesicht, ohne dass sie verrieten, was er dachte. Ebenso unbewegt ließ er den Blick weiterwandern, über ihr hastig zusammengebundenes Haar, ihre abgetragene Bluse, die Jeans und die Stiefel, die längst durch neue hätten ersetzt werden müssen.
Dann betrachtete er mit der gleichen kühlen Miene Cades Gesicht und sein Haar, das ebenso dunkel war wie sein eigenes. Als sich die beiden grauen Augenpaare begegneten, verriet das eine weiterhin keine Regung, aus dem
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