Julia Collection Band 57
alte Erinnerungen wach, sodass sie sich sehr zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen.
Verzweifelt starrte sie auf ihre ineinander verkrampften Hände. Der Verband an ihrer Hand, den Lincoln ihr neu hatte anlegen lassen, war in dem gnadenlos hellen Licht der Neonröhren so weiß, dass ihr die Augen schmerzten.
Aber sie konnte nicht hochsehen, sie wollte ihre Umgebung nicht wahrnehmen. Sie wollte sich nicht erinnern.
Im Verlauf von Luckys Krankheit waren ihr die schattenlosen, sterilen Korridore in Krankenhäusern richtig verhasst geworden. Überall hatten sie den gleichen sauberen, medizinischen Geruch, und doch roch es irgendwie auch immer nach Krankheit. Nach Tod.
Sie konnte einfach nicht vergessen, wie hinfällig Lucky ausgesehen hatte, als er hinter den massiven Türen von Behandlungsräumen verschwand, zu denen sie keinen Zutritt hatte. Und wie unendlich verlassen sie sich fühlte angesichts dieser schleichenden Krankheit, für die es keine Therapie gab.
Mit der Zeit hatte sie gelernt, diese Bilder zu verdrängen, während der Schmerz über seinen Tod, ihre Trauer, allmählich abklang, sogar ihre Schuldgefühle. Jetzt war das Unfassbare geschehen. Jetzt lag Cade hinter diesen massiven Türen.
Erstarrt vor Angst hoffte sie inständig, dass sich die Ereignisse nicht wiederholten. Sie lauschte, ohne eigentlich etwas zu hören, wartete, dass jemand zu ihr ins Wartezimmer kam, um ihr Nachricht von ihrem Sohn zu geben.
Doch niemand kam. Auch wenn sie jedes Mal, wenn sich Schritte näherten, vor Hoffnung und Angst Herzklopfen bekam.
Also lauschte sie weiter. Wartete. Betete.
Als sie die Ungewissheit kaum noch ertrug, hob sie den Blick und starrte den langen Korridor hinunter auf eine bestimmte Tür, als könne sie die allein durch ihren Willen dazu bringen, sich zu öffnen. Und ihr ihren kleinen Sohn zurückzugeben, fröhlich und unverletzt.
Immer wieder sah sie Cade in Jeffersons Armen vor sich, einen zerrissenen Stiefel noch an seinem zerfetzten Bein. Es war ein schreckliches Bild in Schwarz und Weiß und Blutrot. Der Anblick von Cades Blut, von dem Jefferson über und über bedeckt war, hatte sich wie ein dunkelroter Blitz in ihr Gedächtnis gebrannt.
Gütiger Himmel! Sie wollte dieses Bild nicht sehen. Wollte nicht daran denken.
„Lindsey.“
Sie nahm einen angenehmen Duft nach Zedernholz, frischer Luft und Seife wahr. Doch selbst das konnte ihre Erinnerungen und Ängste nicht verbannen.
„Lindsey, Darling, er ist in guten Händen.“ Lincoln setzte sich zu ihr auf das Ledersofa. Er legte eine Hand auf ihre Hände. Seine Wärme, seine Kraft hätten sie trösten sollen. Aber Lindsey war in ihrer schrecklichen Angst nicht für Trost empfänglich.
„Hier, trink das.“ Er hielt ihr eine Tasse mit Tee hin, der nach Zitrone duftete.
Trotz ihrer Panik war sie sich die ganze Zeit über voll bewusst gewesen, dass Lincoln da war. Dass er es war, der Cade Jefferson abgenommen und das bewusstlose Kind während der ganzen Fahrt ins Krankenhaus in den Armen gehalten hatte. Dass er es war, der Cade in erfahrene Hände übergeben hatte und dann ebenso besorgt um sie war und ihre Schnittwunde, die sie völlig vergessen hatte, frisch verbinden ließ. Die ganze Zeit war er nur für wenige Minuten von ihrer Seite gewichen. Und jetzt brachte er ihr auch noch Tee.
„Ich kann nicht zaubern. Eden schickt dir den Tee“, beantwortete er ihre stumme Frage. „Sie hat ihn der Diätköchin in der Kantine abgeschwatzt, weil sie dachte, du würdest lieber etwas anderes trinken als Cola oder diesen scheußlichen Kaffee, den es in Wartezimmern gibt.“ Er hielt ihr erneut die Tasse hin. „Hier bitte.“
Als Lindsey nicht reagierte, drückte er ihr die Tasse sanft in die eiskalten Hände. „Bitte, trink einen Schluck. Wenn du den Tee gar nicht magst, dann wärm dich ein bisschen an der heißen Tasse.“
Gehorsam trank Lindsey einen Schluck. Der Tee tat ihr gut, und zugleich erinnerte er sie daran, dass sie diesmal nicht allein war. Diesmal waren Menschen um sie, die sich ebenfalls sorgten. Menschen, die mit ihr wachten.
Für Lindsey war das Wort „Wache“ ohne jede Hoffnung. Als sie Lincolns Blick suchte, fürchtete sie, darin Antworten zu finden, die man ihr vorenthalten hatte. „Halten wir hier Wache, Lincoln?“
„Nein, meine Liebe.“ Er stellte die Teetasse beiseite. Dann nahm er ihre Hände und küsste erst die geröteten Knöchel ihrer einen Hand, danach der anderen. Es ging ihm zu Herzen,
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