Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
tragen Ihre Erinnerungen in sich.“ Er setzte seinen Weg unverändert fort, so als habe er sie nicht gehört. „Die guten und die schlechten Erinnerungen. Sie sind ein Teil von Ihnen.“ Sie hob ihre Stimme, denn es war ihr wichtig, dass er sie hören konnte. „Sie müssen lernen, damit zu leben, Han. Sie müssen lernen, endlich wieder zu leben.“
Aber er war bereits verschwunden.
Lucy seufzte. Sie wünschte, sie hätte ihn trösten können, aber leider war sie selbst, ohne es zu wollen, der Grund seines Schmerzes.
Sie kniete sich neben Ameerah und drückte das vollkommen verstörte Mädchen an sich. „Ist ja schon gut“, redete sie beruhigend auf das Kind ein, „er meint es nicht so. Dein Vater liebt dich, auch wenn er es im Augenblick nicht so richtig zeigen kann. Aber du wirst sehen, eines Tages wird er auf dich zukommen und dir seine Hand reichen. Und dann wird er dich in den Arm nehmen und nie wieder loslassen.“
Sie redete so lange weiter, bis sie nicht mehr wusste, ob sie zu Ameerah sprach oder zu dem verzweifelten und einsamen Waisenkind, das sie selbst einmal gewesen war.
Hanif ließ sich mehrere Tage lang nicht blicken.
Nachdem Lucy begriffen hatte, welche Folgen sein Fernbleiben für sie hatte, betrachtete sie ihre luxuriöse Umgebung allmählich mit anderen Augen. Bisher war ihr die Anlage wie eine Zuflucht erschienen, aber nun … Es war zwar nicht so, dass er sie gegen ihren Willen hierbehielt, aber solange er nicht da war und seinem Personal entsprechende Anweisungen erteilte, gab es für sie auch keine Möglichkeit, nach England zurückzureisen.
Auch Fathia, der einzige andere Mensch, der wenigstens ein bisschen Englisch sprach, konnte ihr nicht weiterhelfen. Als Lucy die ältere Frau fragte, wann sie Hanif zurückerwartete, zuckte diese nur mit den Schultern: „Bukra, insha’Allah.“
Morgen. So Gott will.
Lucy nahm an, dass sie sehr viel beunruhigter und vielleicht sogar wütender sein sollte, als sie war. Aber letztlich erschien ihr das als vergeudete Energie. Früher oder später würde Hanif zurückkehren, und sie würde nach England zurückfliegen.
In der Zwischenzeit hatte sie sich bemüht, ihre finanzielle Situation zu klären. Sie hatte mehrere Telefonate mit den Banken geführt und zudem den Anwalt ihrer Großmutter beauftragt, die notwendigen Schritte für eine baldige Scheidung einzuleiten.
Alles, was sie jetzt noch nach ihrer Rückkehr nach England erledigen musste, war, sich nach einem Job umzusehen, sodass sie ihr Leben möglichst bald wieder in die eigenen Hände nehmen konnte. Da ihr jedoch bewusst war, dass die meisten Arbeitgeber eher zurückhaltend auf ihre Blutergüsse und Krücken reagieren würden, tat sie das, was Hanif ihr immer wieder nahegelegt hatte.
Sie erholte sich. Lucy entspannte sich bei langen Spaziergängen im Garten, oder sie saß im Schatten eines Baumes und las eines der Bücher, das sie in Hanifs Bibliothek gefunden hatte.
Und sie schrieb zwei Briefe an Jamilla und Dira.
Jamilla rief sie daraufhin an und lud sie ein, sie in Rumaillah zu besuchen, wenn sie zum Konsulat fuhr. Außerdem fragte sie Lucy, ob sie irgendetwas brauchte. Hanifs Schwester war dabei so freundlich und zuvorkommend, dass Lucy sich ein Herz fasste und tatsächlich um einen Sprachkurs bat, um ihre Studien fortzusetzen, und außerdem um Spielzeug und Bilderbücher für Ameerah.
In ihren kühnsten Vorstellungen hätte sie sich nicht träumen lassen, welche Mengen an Spielsachen am nächsten Tag geliefert wurden.
Das Dreirad war von Anfang an Ameerahs großer Favorit. Mit den Büchern und Puzzles vertrieb sich die Kleine die Zeit, wenn Lucy sich ausruhte oder lesen wollte. Nur die zahlreichen Filzstifte rührte das Mädchen nicht an, stattdessen benutzte es weiterhin die Buntstifte, die Hanif ihm hatte bringen lassen.
Mit den zwei Siamkatzen konnte Ameerah ebenfalls nicht viel anfangen. Lucy jedoch gefiel es, wenn die beiden Tiere sich zu ihren Füßen zusammenrollten, während sie Arabisch lernte, oder wenn sie ihr in den Garten folgten, wo sie mit Fathia lange Spaziergänge unternahm. Hierbei erzählte Fathia häufig, wie Hanif als Kind gewesen war. Wie ungestüm und furchtlos er sich verhalten hatte. Und wie sehr Ameerah ihm ähnelte.
Lucy erfuhr, dass Hanif als jüngster Sohn immer verhätschelt worden war. Alles wurde ihm nachgesehen, und trotz seiner wilden Jugend hatten seine Eltern die größten Hoffnungen in ihn gesetzt. Und tatsächlich hatte er nach dem
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