Julia Extra 0353
an Tinny zu denken.
Auf dem Weg zu seiner Suite schaute er bei seinem kleinen Bruder vorbei, wie er es jeden Abend vor dem Zubettgehen tat.
Als er die Tür zu Tinnys Zimmer öffnete, sah er die kleine Lampe auf dem Bücherregal brennen.
Ohne Nachtlicht konnte Tinny nicht schlafen.
Ein warmes Gefühl für seinen geistig behinderten achtundzwanzigjährigen Bruder erfüllte ihn.
Constantine – oder Tinny, wie er in der Familie nur hieß – hätte eigentlich am Unglückstag mit im Flugzeug der Eltern sitzen sollen. Doch in letzter Minute hatte er die Eltern angefleht, gemeinsam mit Zale auf die kleine Privatinsel in der Karibik fliegen zu dürfen.
Auch nach fünf Jahren war Zale jeden Tag aufs Neue dankbar, dass sein kleiner Bruder nicht mit an Bord der Unglücksmaschine gewesen war. Tinny war jetzt alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Aber Tinny vermisste seine Eltern immer noch und fragte jeden Tag, wann sie endlich nach Hause kommen würden.
„Euer Majestät“, flüsterte eine Stimme aus der Dunkelheit. Es war Mrs Sivka, Tinnys Pflegerin. „Es geht ihm gut. Er schläft ganz friedlich.“
„Es tut mir leid, dass ich zum Gutenachtsagen nicht hier war.“
„Er wusste ja, dass Sie nicht kommen würden. Beim Tee heute Nachmittag hatten Sie ihm doch gesagt, wie wichtig der Abend für Sie sein würde.“ Mrs Sivka lächelte. „Wie war die Feier, Majestät? Ist sie so schön, wie behauptet wird?“
Ein seltsames Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. „Ja.“
„Tinny kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Er hat den ganzen Abend von nichts anderem geredet.“
„Ich werde sie ihm so bald wie möglich vorstellen.“
„Morgen?“
Zale dachte an Emmeline, dann an seinen Bruder und wusste sofort, dass der unschuldige, gutgläubige Tinny sie sofort abgöttisch lieben würde. Damit würde sie Macht gewinnen, ihm das Herz zu brechen. „Nein, morgen noch nicht. Aber bald, das verspreche ich.“
„Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werden Sie Prinz Constantine Ihre Braut schon vorstellen“, sagte Mrs Sivka lächelnd. „Ich bin stolz auf Sie. Und Ihre Eltern wären es ebenfalls.“
„Etwas anderes dürfen Sie auch nicht sagen“, zog er sie auf. „Schließlich waren Sie früher mein Kindermädchen.“
„Und sehen Sie, was aus Ihnen geworden ist.“
Er lächelte. „Gute Nacht, Mrs Sivka.“
„Gute Nacht, Euer Majestät.“
Nachdem Zale die Suite seines Bruders verlassen hatte, machte sich Beklommenheit in seiner Brust breit.
Am heutigen Abend hatte er eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt. Das gefiel ihm nicht.
Normalerweise ließ er Gefühle nicht zu. Doch Emmeline hatte ihn seltsam berührt. Sie war ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Da war nichts mehr von der eiskalten Prinzessin. Nein, heute Abend hatte sie seine Gefühle gehörig auf den Kopf gestellt.
Dabei hatten Gefühle in ihrer Beziehung nichts zu suchen. Schließlich ließen sie sich auf eine arrangierte Ehe ein, die bis ins Detail in einem fünfundsiebzigseitigen Ehevertrag festgelegt war, den sie morgen unterzeichnen würden.
Ganz gleich, wie sehr er sie auch begehrte, er durfte nie vergessen, dass ihre Beziehung in erster Linie finanzieller Natur war.
Zum Glück besaß Zale eiserne Disziplin. Dabei war er als mittlerer von drei Söhnen eigentlich keinem Druck ausgesetzt gewesen. Niemand war mit besonders hohen Erwartungen an ihn herangetreten. Aber Zale selbst hatte große Erwartungen in sich gesetzt. Schon in ganz jungen Jahren war er entschlossen gewesen, seinen eigenen Platz in der Welt zu finden. Und während sein älterer Bruder Stephen, der Kronprinz von Raguva, in die Amtsgeschäfte der Monarchie eingeführt worden war, hatte Zale sich mit Feuereifer in den Sport gestürzt.
Sein älterer Bruder hätte eines Tages König werden sollen, Zale wollte Profifußballer werden.
Zale war sechzehn Jahre alt gewesen und hatte in einem Internat in England gelebt, als bei dem neunzehnjährigen Stephen, der in Oxford studierte, Leukämie festgestellt wurde.
Drei Jahre lang kämpfte Stephen entschlossen gegen die Krankheit an. Drei Jahre lang gab er die Hoffnung nicht auf, dass die kräftezehrende Strahlentherapie den Blutkrebs besiegen würde.
Zale fühlte sich hilflos. Er konnte nichts tun, weder für Stephen noch für seine Eltern. Also trieb er noch mehr Sport. Das Training, das er sich selbst auferlegte, war hart: Laufen, Liegestütze, Gewichte stemmen. Und das drei bis vier
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