Julia Extra 0353
geben.
Emmanuels jüngerer Bruder Nicolas stand in der Erbfolge an nächster Stelle. Nicolas war zwar eine charismatische Persönlichkeit, lebte allerdings auf sehr großem Fuß. Obwohl seine Apanage sehr großzügig bemessen war, mussten Familienangehörige oft einspringen, um seine Schulden zu begleichen.
Nein, Nicolas kam nicht infrage. Schon nach ein, zwei Jahren hätte er Raguva in den Ruin getrieben.
Wer eignete sich sonst zum König, wenn er abdankte?
Hannah legte die Hand auf seine Brust. „Hör auf zu grübeln“, murmelte sie. „Es gibt keine andere Möglichkeit, das wissen wir beide. Morgen früh werde ich gehen.“
„Nein.“
„Ich möchte nicht fort, aber ich kann dir keinen Thronfolger schenken. Und darauf kommt es an.“
„Ich will dich nicht verlieren.“
„Lass uns das Ganze so rasch wie möglich beenden. Wir wissen beide, dass es nur schlimmer wird, wenn ich länger bleibe.“
„Ich habe so viel im Leben verloren. Wie kann ich dich da auch noch aufgeben, Hannah?“
Sie schwieg einen Moment. „Das ist die einzige Möglichkeit“, sagte sie dann. „Du kannst dein Land nicht im Stich lassen. Und du musst dich um Tinny kümmern.“
„Tinny geht mit mir.“
„Aber der Palast ist sein Zuhause. Du darfst ihn nicht aus seiner gewohnten Umgebung reißen. Und du kannst nicht vor deinen Verpflichtungen davonlaufen. Du bist König von Raguva. Dies ist dein Land, dein Schicksal.“
Er nahm ihr Gesicht in die Hände. „ Du bist mein Schicksal. Das weiß ich jetzt.“
Sie küsste ihn zärtlich. „Ich liebe dich, aber du irrst dich. Wie kann ich dein Schicksal sein, wenn Raguva dich braucht?“
„Fällt es dir so leicht, mich zu verlassen?“
„Ganz und gar nicht. Aber wenn du meinetwegen abdankst, dann wirst du mich eines Tages dafür hassen, und ich werde mich für immer schuldig fühlen.“
„Aber es muss doch einen Weg geben.“
Sie legte die Wange an seine Brust. Das regelmäßige Schlagen seines Herzens beruhigte sie und gab ihr Kraft. „Aber es gibt keinen, das weißt du.“
Die Entscheidung war gefallen. Am Morgen würde sie aufbrechen. Zale würde sie zum Flughafen bringen.
Um Mitternacht liebten sie sich noch einmal. Hinterher lagen sie wach und hielten sich umschlungen. Und dann brach der neue Tag an, die Sonne kam hinter den Bergen hervor und tauchte den Himmel in ein zartgelbes Licht.
Hannah lag in seinen Armen und betrachtete den Sonnenaufgang.
„Ich weiß, dass ich dich eigentlich nicht um einen Gefallen bitten darf“, begann sie, „aber ich würde Tinny vor meiner Abreise gern noch einmal sehen.“
„Ich weiß nicht recht, Hannah. Tinny denkt doch, dass du bald zur Familie gehörst. Er wird es nicht begreifen, wenn du plötzlich wieder verschwindest.“
„Aber wundert er sich nicht jetzt schon, warum ich nicht da bin? Ich kann ihm doch einfach erzählen, dass ich wegen meiner Familie nach Hause fahren muss. Bitte, Zale, sonst denkt Tinny noch, ich hätte ihn einfach vergessen.“
Zale überlegte kurz. „Gut. Ich rufe Mrs Sivka an und sage ihr, dass wir heute Morgen mit Tinny Tee trinken.“
„Vielen Dank.“
Zwei Stunden später saßen sie an dem kleinen Tisch in Tinnys Suite und tranken Tee. Prinz Tinny kippelte aufgeregt hin und her, weil er den Gastgeber spielen durfte.
Mrs Sivka servierte das Frühstück, während Hannah Geschichten aus Amerika erzählte, die Tinny begeistert aufnahm.
Die Zeit verging wie im Flug, bald war der Abschied gekommen.
Tinny drückte Hannah ganz fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Als Hannah die Hände von Mrs Sivka ergriff, schimmerten Tränen in den Augen des alten Kindermädchens. „Es tut mir leid, Euer Hoheit.“
Auch Hannah kämpfte mit den Tränen. „Bitte nennen Sie mich nicht so. Ich bin doch nur Hannah Smith, eine einfache Amerikanerin.“
„Für mich werden Sie immer etwas Besonderes sein. Passen Sie gut auf sich auf.“
„Das werde ich“, versicherte Hannah.
„Ich hoffe, dass Sie Ihr Glück finden.“
Hannahs Blick wurde ernst. „Ich werde es versuchen.“
Dann legte Zale die Hand auf ihren Arm und führte sie die ausladende Freitreppe hinunter. Seine Limousine wartete bereits vor der Tür. Während der Fahrt zum Flughafen saßen sie schweigend nebeneinander, und auch auf dem Weg zu seinem Privatflugzeug sprachen sie kein Wort.
Als Hannah sich in den Ledersessel setzte, vermied er ihren Blick. Seine Gesichtszüge waren wie versteinert. „Soll ich dich wirklich so gehen
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