Julia Extra 0353
Mädchen“, lallte Tante Barbara in diesem Moment. „Mach dir keine Sorgen – du bist bestimmt auch bald dran.“
Okay, das reichte. Dann musste sie eben mit ihrem Vater vorliebnehmen. Resolut steuerte Jennie die alte Dame in Richtung Rezeption.
„Dennis!“ Ehe ihr Bruder sich’s versah, hatte Tante Barbara ihn schon in die Arme geschlossen. Ein hässlicher orangefarbener Fleck machte sich auf dem Revers seines dunkelblauen Jacketts breit, und Jennie musste unwillkürlich grinsen. Gegen seine Schwester war sogar ihr Vater, Vorstandsvorsitzender von Hunter Industries, machtlos.
Doch so rasch, wie es aufgeflammt war, verlor Tante Barbara auch wieder das Interesse an ihrem einzigen Bruder und erkundigte sich bei der Hotelangestellten nach der Bar.
„Dort hinten“, erwiderte die Empfangsdame und wies auf eine Tür am Ende des langen Flurs, aus der laute Musik drang.
„Gott sei Dank“, sagte Jennies Vater erleichtert, nachdem seine Schwester außer Hörweite war, und musterte seine Tochter von oben bis unten.
„Also, ich muss schon sagen, obwohl ich eigentlich keine Second-Hand-Mode mag …“
„Ich habe dir doch schon hundertmal erklärt, dass es ein Vintagekleid ist“, unterbrach Jennie ihn ungeduldig. „Vintage heißt, es wird mit den Jahren immer besser.“ Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. „Genau wie du, Daddy.“
„Du bist wirklich unmöglich, Jennie“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Trotzdem bin ich froh, dass sich meine frischgebackene Schwiegertochter in der Kleiderfrage durchgesetzt hat.“
Alice und die andere Brautjungfer, Coreen, besaßen ein Geschäft mit Vintagekleidern, und Jennie hatte sich sofort in das champagnerfarbene Etuikleid aus fließendem Satin verliebt. Es passte wie angegossen und wirkte ungeheuer elegant. Alice hatte keine große Überredungskunst gebraucht, um ihr den Kauf schmackhaft zu machen. Außerdem hatte sie zufällig noch genau die passenden Schuhe dafür. Als Alice dann mit ihren Hochzeitsvorbereitungen begann, hatte sie darauf bestanden, dass Jennie dieses Kleid trug.
Jennie verschwieg ihr dabei, dass sie es bereits einmal getragen hatte, denn das hätte zu Fragen geführt, die sie im Moment weder beantworten konnte noch wollte. Deshalb hatte sie das Kleid zwar zur Hochzeit angezogen, hatte aber den ganzen Tag ein ungutes Gefühl dabei gehabt.
„Du siehst wirklich … äh …“, es fiel ihrem Vater offensichtlich nicht leicht, Jennie ein Kompliment zu machen.
„Eigentlich will er nur sagen, dass du umwerfend aussiehst“, vervollständigte ihre Stiefmutter den Satz und umarmte sie lächelnd.
Jennie bemerkte, wie entspannt Marion aussah. Bestimmt war sie froh, dass das ganze Spektakel vorbei war. Sie hatte die Feier in Rekordzeit auf die Beine stellen müssen, weil Cameron darauf bestanden hatte, Alice am ersten Tag des neuen Jahres zu heiraten.
Mit einer Spur von Wehmut blickte Marion auf die Einfahrt des Hotels, und Jennie wusste genau, wie ihr zumute war.
„Sie werden bestimmt sehr glücklich sein“, versicherte sie ihrer Stiefmutter.
„Ja, bestimmt“, nickte Marion und lächelte schwach. „So ist das, wenn man Kinder hat … egal, wie alt sie sind, für dich bleiben sie immer der Mittelpunkt des Universums.“ Sie seufzte. „Ich weiß, es ist egoistisch. Aber ich muss immer daran denken, dass wir Cameron nun nicht mehr so oft sonntags zum Lunch sehen werden.“
„Unsinn“, erwiderte Jennie und schüttelte den Kopf. „Ich kenne Alices Kochkünste und garantiere, dass sie noch immer regelmäßig auftauchen werden.“
Beide mussten lachen. Dann sah Marion ihre Stieftochter prüfend an.
„Und du? Was ist mit dir? Bist du auch glücklich?“
Jennie erstarrte. Auf eine solche Frage war sie nicht vorbereitet, denn niemand erkundigte sich normalerweise nach ihrem Seelenzustand. Die meisten Menschen wollten eher wissen, woher sie ihre tollen Schuhe hatte oder wie ihr Friseur hieß. Aber kaum jemand stellte ihr je eine persönliche Frage, denn die meisten hielten sie für oberflächlich. Seit Jahren wartete sie jedoch darauf, dass jemand sich endlich nicht nur von dieser Fassade blenden ließ.
Tatsächlich hatte es jemanden gegeben, der genauer hingeschaut hatte und wissen wollte, ob es noch mehr unter der Oberfläche gab. Doch genau derjenige hatte sie dann im Stich gelassen.
Jennie schüttelte den Kopf. Sie wollte sich damit nicht mehr beschäftigten und war nicht scharf auf Fragen dieser Art.
„Du siehst ein wenig
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