Julia Extra 0353
der Ruhe bringt. Habe ich recht?“
Ein bisschen Nacktheit? dachte Gabriella. So konnte man es auch ausdrücken. Sie hatte nicht vor, ihre privaten Angelegenheiten zu diskutieren, aber sie wollte auch nicht, dass die andere Frau sie für schüchtern und verklemmt hielt. „Ich bin keine Jungfrau, falls Sie das meinen.“
Selbst wenn sie an einer Hand abzählen konnte, wie oft sie Sex gehabt hatte.
Natania lächelte selbstzufrieden und nickte. „Ich wusste es! Eine Frau spürt so etwas.“ Sie deutete auf die Wände im Alkoven. „Dann verstehen Sie diese Kunst und können Sie würdigen.“ Sie blickte auf ihre Uhr. „Ich muss mich um das Abendessen kümmern, es sei denn …“
„Das ist in Ordnung“, erwiderte Gabriella. „Ich mache hier alleine weiter. Wir sind ja sowieso fast fertig.“
„ Grazie. Ich verspreche Ihnen für heute Abend ein Festmahl, das eines Königs würdig ist – und seiner Königin.“ Sie nickte. „Ich bin froh, dass Raoul endlich eine Frau mitgebracht hat.“
„Es ist nicht so, wie Sie denken, Natania! Absolut nicht. Wir sind nur alte Freunde, das ist alles.“
„ Sì. Jetzt vielleicht noch.“ Sie warf ihre langen Locken zurück und lief in Richtung Küche.
Was hatte sie damit gemeint? Konnte Natania vielleicht nicht nur kochen, sondern auch die Zukunft voraussagen? Ein Teil von Gabriella wünschte sich, die schöne Italienerin hätte die Wahrheit gesagt.
Raoul stürmte quer über den kleinen Platz hinter dem Palazzo. Er verfluchte die Dunkelheit in seinem Inneren. Immer wieder erhob sie ihr gieriges Haupt. Sie gehörte zu ihm, giftig und zersetzend wie der Schlamm in den Kanälen. Eine Dunkelheit, die seine Adern verstopfte und ihn für immer vom Leben eines normalen Mannes trennte.
Das alles hatte er nicht gewollt. Er war nicht in der Lage, irgendjemanden zu beschützen! Er hatte nicht einmal seine eigene Frau retten können!
Er hatte genau gesehen, wie Gabriella in der Bibliothek vor ihm zurückgezuckt war. Fast als hätte er sie geschlagen!
Und alles nur, weil er nicht in der Lage war, mit jemandem umzugehen, der Licht sah, wo er selbst nur Dunkelheit erkennen konnte, Hoffnung, wo keine war.
Danach hatte sie ihre Freude unterdrückt und ihm nur noch ein verkümmertes Bild der echten Gabriella gezeigt. Er selbst hatte ihr das angetan, und er hasste sich dafür. Hatte Umberto das wirklich für seine geliebte Enkelin gewollt?
Was geschah, wenn man ein Versprechen gegenüber einem Toten brach? Stieg dieser aus seinem Grab und verfolgte einen bis in die Träume?
Raoul wollte es nicht herausfinden. Er wurde schon von zu vielen Geistern der Vergangenheit gejagt.
Darum hatte er keine Wahl: Er musste Gabriella umwerben, ihre Lebensfreude ertragen. Später, wenn Garbas hinter Gittern saß und sie nie wieder verletzen konnte, würde er sie gehen lassen.
5. KAPITEL
Vielleicht lag es an Natanias köstlicher frittura aus fangfrischem Fisch und Meeresfrüchten oder vielleicht an seinem erfolgreichen Geschäftstermin – auf jeden Fall war von Raouls düsterer Stimmung nichts mehr zu merken. Als er Gabriella einen Abendspaziergang durch Venedig vorschlug, konnte sie nicht widerstehen.
Die Luft war schwer, als würde bald Nebel aufziehen, aber die Wärme des Tages lag noch über der Stadt. Nachdem Raoul ihr einige Sehenswürdigkeiten wie den Dogenpalast und die Rialtobrücke gezeigt hatte, führte er sie fort von den Menschenmengen. Sicher lotste er sie durch das Labyrinth aus Gassen und Kanälen zu kleinen, bezaubernden Plätzen. Hierher verirrte sich kaum ein Tourist.
Ich schaffe es! versicherte er sich immer wieder. Er konnte seine dunkle Seite vor ihr verbergen und sich wie ein zivilisierter Mensch verhalten. Er konnte interessant sein, aufmerksam und charmant. Nicht nur, weil es nötig war, sondern auch, weil Gabriella ihn faszinierte. Ich will mehr über sie wissen, stellte er überrascht fest, als er sie auf einen Kaffee in eine winzige Trattoria führte.
„Was hat dich dazu gebracht, ausgerechnet Bibliothekarin zu werden?“ Er beobachtete, wie ihr kastanienbraunes Haar im Wind wehte.
Sie nippte an ihrem Kaffee. „Ich glaube, mein Beruf hat mich gewählt“, sagte sie so nachdenklich, als hätte sie sich diese Frage noch nie gestellt. „Ich liebe Bücher. Zwischen jedem Buchdeckel liegt eine ganze Welt, und du weißt nie, was du darin findest. Neue Entdeckungen, neue Charaktere, alles ist dort und wartet nur auf dich, darauf, dass du das Buch aufschlägst und in
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