Julia Extra 0353
sagte Raoul plötzlich. „Bereust du, dass du mit mir nach Venedig gekommen bist?“
Sie lächelte. Wenn Raoul so charmant war wie heute Abend, würde sie mit ihm überall glücklich sein. Aber sie konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen als Venedig. „Nicht eine Sekunde! Ich bin sehr glücklich hier.“
Er blieb stehen, zog sie in seine Arme und legte eine Hand in ihren Nacken. Gabriella genoss das leichte Kribbeln, das seine Berührung auf ihrer Haut auslöste. Und als er sie zärtlich zu küssen begann, schloss sie die Augen und gab sich ganz seinen sanften Lippen hin. Die Zeit schien stehen zu bleiben, doch schließlich löste er sich von ihr. Fast hätte Gabriella einen protestierenden Laut ausgestoßen.
„Wofür war das?“, fragte sie atemlos.
„Ich konnte nicht anders.“
In der Nacht lag Gabriella lange Zeit schlaflos in ihrem riesigen Bett. Auf den Wänden um sie herum feierten die Satyre und Götter ihre endlose Orgie der Lust. Noch immer prickelten ihre Lippen von Raouls Kuss, und in ihrem Kopf drehte sich alles.
Direkt vor ihr küsste eine Nymphe ihren Liebhaber, seine Hand lag auf ihrer Brust. Gabriella konnte fast spüren, wie diese Finger ihre empfindsamen Brustwarzen zärtlich streichelten und drückten.
Sie ächzte und drehte sich weg von der aufreizenden Malerei. Doch auf der anderen Seite sprang ihr sogleich das Bild einer Frau ins Auge, die ihren Kopf in Ekstase zurückgeworfen hatte, während ihr Liebhaber sich von hinten eng an sie presste.
Gabriella versteckte ihr Gesicht im Kissen und versuchte, das Pulsieren zwischen den Schenkeln zu ignorieren.
So ein großes und einsames Bett.
Was für eine Verschwendung.
Als sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, verfolgten sie die lüsternen Götter und triebhaften Satyre noch bis in ihre Träume – und ein Mann voller dunkler Geheimnisse, der direkt im Nachbarraum schlief.
Als Gabriella am nächsten Morgen aufstand, hatte Raoul schon das Haus verlassen. Sie zog bequeme Jeans und ein T-Shirt an und begann mit ihrer neuen Arbeit in der Bibliothek. Marco fand eine Leiter für sie, mit der sie auch die obersten Bücherregale erreichen konnte.
Schon in den unteren Reihen entdeckte sie wissenschaftliche Bücher, Werke über Kunst, Architektur und Geografie, manche waren mehr als hundert Jahre alt. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Doch die meisten Bücher waren in italienischer Sprache verfasst, und mit ihrem Schulitalienisch würde sie nicht weit kommen.
Vielleicht konnte sie einen ihrer Kollegen aus Paris bitten, ihr zu Hilfe zu kommen. Plötzlich fiel ihr wieder Consuelo ein. Inzwischen musste es Neuigkeiten geben.
Raoul hatte ihr versichert, sie könnte nichts tun, aber sie konnte Consuelo auch nicht einfach im Stich lassen. Trotz allem war er ihr Freund, und auch er würde ihr zu Hilfe kommen, davon war sie überzeugt.
Gerade als sie von der Leiter steigen wollte, fiel ihr Blick auf ein schmales Buch. Den Titel konnte sie selbst mit ihrem holprigen Italienisch übersetzen: venezianische Gespenstergeschichten.
Vermutlich stammte Raouls Geschichte aus diesem Buch. Neugierig zog sie es heraus und blätterte schaudernd durch die Seiten. Im Nebel verschwundene Kinder, eine ertrunkene Frau, deren Körper in manchen Nächten in der Lagune trieb, aber nirgendwo wurde ein reicher Kaufmann erwähnt.
Wie ein Blitz durchzuckte sie ein Gedanke: War es wirklich eine Legende gewesen?
Oder hatte Raoul seine ganz eigene Gespenstergeschichte erzählt?
Sie dachte an den Augenblick in der Trattoria zurück. Sie hatte nach seiner Frau gefragt, und er war ihr ausgewichen. War die Geistergeschichte vielleicht sein Weg gewesen, sich Gabriella anzuvertrauen?
Ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Was konnte sie nur tun, um seinen tiefen Schmerz zu lindern? Gerade als sie von der Leiter steigen wollte, öffnete sich die Tür. Gabriella war so in Gedanken gewesen, dass sie nun erschrocken herumfuhr und dabei das Gleichgewicht verlor. Fast wäre sie gefallen, doch Raoul war schon bei ihr und fing sie auf.
Sanft stellte er sie auf den Boden. „Bella! Was tust du da?“
Atemlos sah sie ihn an. Sie bemühte sich um ein möglichst zurückhaltendes Lächeln, um ihm zu zeigen, dass sie von seinem Schmerz und seinem Verlust wusste. Aber als sie ihn anschaute, wurde, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, ein strahlendes Lächeln daraus. „Ich wollte mit der Arbeit anfangen und mir meinen Aufenthalt hier verdienen.“
„Ich habe eine viel
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