Julia Extra 0353
seine Welt eintauchst.“
Raoul konnte seinen Blick nicht von ihrem leuchtenden Gesicht abwenden. Sie sprach so leidenschaftlich, voller Begeisterung, es kam ihm vor, als würde ein helles Licht von ihr ausgehen und ihn wärmen, tief in seinem Inneren, wo seit Langem nur Dunkelheit gewesen war.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht konnte er so ihr Interesse noch eine Weile aufrechterhalten! „Die Bücher in meiner Bibliothek …“, begann er. „Ich habe keine Idee, was dort alles in den Regalen steht.“
„Vielleicht … also natürlich nur, wenn es dir recht ist, könnte ich anfangen, sie zu katalogisieren.“
„Das würdest du für mich tun?“
„Sogar sehr gern!“ Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Und was ist mit dir?“
„Was soll mit mir sein?“
„Was hast du in den letzten Jahren gemacht?“
Versucht zu vergessen.
„Nichts halb so Interessantes wie du.“
Gabriella senkte den Kopf. „Es hat mir so leidgetan, als ich vom Tod deiner Frau gehört habe. Ihr wart nur so kurz verheiratet.“
Er spürte, wie die Dunkelheit stärker wurde. „Was genau hast du gehört?“
„Nur, dass sie einen tragischen Unfall hatte. Aber das ist jetzt schon so lange her. Hast du nie daran gedacht, wieder zu heiraten?“
Nie.
Er leerte seine Tasse und stand auf. „Lass uns noch ein Stück gehen.“
Während sie in dem Café gesessen hatten, war dichter Nebel herangezogen und hatte sich über die Lagune gelegt. Gabriella vergaß ihre Frage und beobachtete fasziniert, wie die ganze Stadt langsam in einer dicken weißen Wolke verschwand, als hätte sie niemals existiert.
Von einer kleinen Brücke aus schauten sie in den Nebel, der jedes Geräusch zu verschlucken schien. Nur hin und wieder waren die gespenstischen Umrisse und Lichter von Schiffen zu erkennen. Gabriella schauderte.
„Ist dir kalt?“ Er legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Es ist unheimlich.“
„In Nächten wie diesen kommen die Geister heraus.“
„Oh, Raoul, bitte.“ Sie versuchte zu lachen, während sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. „Ich bin kein Kind mehr. So leicht kannst du mir keine Angst einjagen.“
„Es ist wahr! In Venedig gibt es viele, viele Gespenster. Und viele, viele Geschichten.“
„Zum Beispiel? Erzähl mir eine dieser Geschichten“, forderte sie ihn auf, um ihm ihren Mut zu beweisen. Doch als sie in den unheimlichen Nebel schaute, bereute sie ihre Worte fast.
„Es war einmal ein Kaufmann“, begann Raoul mit gedämpfter Stimme. „Er besaß große Reichtümer, und manche Leute behaupteten sogar, er sei gut aussehend gewesen. Dieser Kaufmann hatte eine wunderschöne Frau. Er dachte, kein Mensch auf der Welt könne glücklicher sein als er.“
Gabriella lauschte atemlos. Diese Geschichte konnte kein gutes Ende haben!
„Eines Tages hat dieser Kaufmann seine wunderschöne Frau zwei Brüdern vorgestellt. Zwei guten Freunden von ihm, jedenfalls glaubte er das. Aber die beiden Brüder schmiedeten Pläne, ihm alles zu nehmen. Sie versprachen der Ehefrau die ganze Welt und lockten sie von ihm fort.“
„Sie ist freiwillig gegangen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wer kann das so genau sagen? Dieser Kaufmann war jedenfalls ein sehr dummer Mann. Als es ihm gut ging, hat er nur sein perfektes Leben gesehen. Für alles andere war er blind. Und als er alles verloren hatte, kannte er nur seine Rache. In einer stürmischen Nacht hat er schließlich seine Frau gefunden, im Bett mit einem der beiden Brüder. Es hat ihn fast umgebracht.“
„Was ist passiert?“
„In der Nacht sind beide gestorben. Die Frau und ihr Liebhaber.“
„Hat der Kaufmann sie getötet?“
„Nein, aber das machte keinen Unterschied. Seit dieser Nacht verfolgte ihr Geist ihn, bis er glaubte, in der tiefen Dunkelheit seiner Seele den Verstand zu verlieren. Und selbst jetzt, in Nächten wie diesen, kann man noch ihre Stimme hören, ihre traurigen Rufe, während sie überall nach ihm sucht, um ihn mit sich in die Tiefe zu ziehen.“
Durch den Nebel hörte Gabriella das Heulen des Windes. Draußen über der Lagune flackerte ein Licht auf und verlöschte wieder. Sie legte ihre eiskalte Hand auf Raouls Arm und hoffte, dass er ihr Zittern nicht bemerkte.
„Es ist spät“, murmelte sie. „Lass uns nach Hause gehen.“
Hand in Hand gingen sie zurück. Die Laternen am Ufer der Kanäle zeigten ihnen den Weg, und langsam wurde Gabriella wieder wärmer.
„Ich möchte, dass du glücklich bist, Bella“,
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