Julia Extra 360
die die meisten Menschen sich wünschen.“
„Die meisten Menschen wollen auch geliebt werden.“ Sie stieß einen Seufzer aus. „Vermutlich mehr als alles andere.“
„Das ist mir klar, Gisele. Und ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich wünschte es mir nicht. Ich wünsche es mir sogar schon mein ganzes Leben, aber ich habe lernen müssen, dass man nicht immer bekommt, was man haben will. Und meiner Erfahrung nach ist so etwas auch nicht von Dauer.“
Das Thema war beendet, als der Ober kam und das Geschirr abräumte. Emilios Gesicht wurde von einer Sekunde auf die nächste ausdruckslos und verschlossen. Gisele wusste, es hätte wenig Zweck, ihn zu drängen, mehr von seiner Kindheit zu erzählen. Still fragte sie sich, wie viele Leute er in seinem Leben wohl hatte kommen und gehen sehen, dass er eine solch zynische Einstellung zur Liebe entwickelt hatte. Hatte man ihm Versprechungen gemacht, die dann gebrochen worden waren? Leere Worte, denen nie Taten gefolgt waren? Kinder vertrauten und verließen sich auf die Eltern, erwarteten, dass sie ihnen Sicherheit und Stabilität boten. War Emilio vielleicht mit dem Gefühl aufgewachsen, niemandem vertrauen zu können? Sich auf niemanden verlassen zu können?
„Luigi wird dich zur Villa zurückfahren“, schloss er an. „Ich habe noch einigen Papierkram im Büro zu erledigen.“
„Du hast ihn also nicht gefeuert?“, fragte sie vorsichtig.
Eine Hand an ihren Ellbogen gelegt, dirigierte er sie zum Ausgang. „Nein, aber er hat eine Abmahnung erhalten.“
„Oh, das darfst du ihm nicht antun“, ereiferte sie sich sofort. „Er hat sicher eine Familie zu ernähren. Es war allein meine Schuld. Ich wollte mit der anonymen Menge verschmelzen. Wäre ich in einer Luxuslimousine aufgetaucht, hätte ich nur die Aufmerksamkeit auf mich gezogen.“
Mit einer Fingerspitze strich er die Falte auf ihrer Stirn glatt. „Ich mag es nicht, wenn mein Personal meine ausdrücklichen Anweisungen missachtet.“
„Was für ein Glück, dass ich nicht auf deiner Gehaltsliste stehe.“ Sie biss sich in die Lippe. „Nun, wenn man es genau bedenkt, tue ich es eigentlich doch.“
Emilio hob ihr Kinn an. „Du gehörst nicht zu meinem Personal.“
„Sondern?“
Lange studierte er ihr Gesicht, dann setzte er einen flüchtigen Kuss auf ihren Mund und half ihr beim Einsteigen in den wartenden Wagen. „Du solltest versuchen, dich am Nachmittag auszuruhen. Es könnte spät werden heute Abend.“
7. KAPITEL
Emilio sah Gisele entgegen, als sie am Abend die Treppe hinunterkam. Sie trug ein elegantes Cocktailkleid, hatte den passenden Chiffonschal um die Schultern geschlungen. Das Haar hatte sie zu einem kunstvollen Chignon gesteckt. Sie war ihm nie schöner vorgekommen. Und als sie ihm dann auch noch ein kurzes Lächeln schenkte, meinte er, die Sonne würde durch die Wolken brechen und ihm das Herz erwärmen. Er hatte vergessen, wie gut er sich fühlte, wenn sie ihn anlächelte. Als würde sich Wärme überall in seinem Körper ausbreiten und die Leere in ihm füllen.
Für ihn war es ein großer Schritt, sie heute auf die Wohltätigkeitsveranstaltung mitzunehmen. Normalerweise ging er allein. Nur wenige außerhalb der Organisation wussten um sein intensives Engagement und um den Grund dafür. Vor über einem Jahr hatte er erkannt, dass er seine Herkunft nicht länger ignorieren konnte. In ihm war das Bedürfnis gewachsen, anderen zu helfen, die sich in einer ähnlichen Situation wie er damals befanden. Er war dieser Hölle durch Entschlossenheit und Durchhaltevermögen entkommen, aber ihm war klar, dass lange nicht alle einen solch eisernen Willen hatten wie er.
Gisele einen Blick auf sein früheres Leben zu gewähren würde nicht angenehm werden – aber den Preis musste er zahlen, wenn er vorhatte, die Dinge zu ändern. Er stellte sich nur ungern den Schatten der Vergangenheit. Jedes Mal, wenn er von diesen Veranstaltungen zurückkam, fühlte er sich zutiefst aufgewühlt, so, als würden jene Geister von damals mit ihren Klauen nach ihm greifen und ihn zurück in die Gosse zerren wollen, um ihn dort allein und frierend zurückzulassen.
Als Gisele vor ihm stand, nahm er ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Du siehst fantastisch aus. Fuchsienrot steht dir.“
„Danke.“ Mit einem flüchtigen Lächeln nahm sie sein Kompliment entgegen.
„Ich habe etwas für dich.“ Er griff nach der Schatulle, die er auf dem Tischchen abgelegt hatte, und klappte den Deckel auf.
Weitere Kostenlose Bücher