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Julia Extra 360

Julia Extra 360

Titel: Julia Extra 360 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shirley Jump , Carol Marinelli , Susan Stephens
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ich möchte dir etwas zeigen.“
    Er nahm sie bei der Hand und führte sie eine Seitenstraße hinunter, dann noch eine und noch eine. Es war ein Labyrinth aus engen Gassen und dunklen Schatten, Ratten huschten über stinkenden Müll und verschwanden in der Kanalisation, als sie die Schritte von Menschen hörten. Gisele bekam Gänsehaut, doch sie klammerte sich an Emilios Hand und fühlte sich sicher in einer Welt, die sie bisher nie gesehen hatte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass solche Welten existierten, und sie schämte sich dafür. Wie hatte sie nicht wissen können, dass es Menschen gab, die jeden Tag ums nackte Überleben kämpften? Die Lügen über ihre Abstammung verblassten völlig im Vergleich zu dieser neuen Erkenntnis.
    Irgendwann standen sie in einer Gasse, in der nur eine einzige Straßenlaterne leuchtete. Der milchige Schein verstärkte die Trostlosigkeit der verfallenen Häuser nur noch. Emilio führte Gisele zu einem verlassenen Gebäude, düster, mit eingeschlagenen Fensterscheiben, ohne jedes Licht.
    „Kurz vor meinem vierten Geburtstag hat meine Mutter mich auf diesen Treppen ausgesetzt“, hob er tonlos an. „Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.“
    Gisele drückte seine Finger, ihre Kehle so eng, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Stumme Tränen hatten freien Lauf, während sie auf die ausgetretenen Stufen starrte. Sie stellte sich Emilio als kleinen Jungen vor, noch nicht einmal im Schulalter. Wie endlos verlassen musste er sich gefühlt haben?
    „Sie war noch ein Teenager“, fuhr er fort. „Sie wusste nicht einmal, wer mein Vater war. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es vier oder fünf mögliche Kandidaten gibt.“
    „Oh Emilio …“
    „Sie sagte, sie würde zurückkommen.“ Er hielt ihre Hand so fest, dass sie meinte, ihre Knochen müssten brechen, doch mit keinem Ton beschwerte sie sich. Schweigend stand sie da und verfolgte mit, wie die Erinnerungen vor seinem geistigen Auge vorbeizogen. „Sie hatte es versprochen. Und ich habe ihr geglaubt. Ich habe auf sie gewartet. Stunden. Vielleicht waren es auch Tage. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es kalt war. An die Kälte erinnere ich mich.“ Unwillkürlich schüttelte er sich. „Sie ist mir bis ins Mark gekrochen. Manchmal kann ich sie noch heute spüren.“
    Gisele schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich, versuchte an den kleinen Jungen heranzukommen, der er einst gewesen war. „Oh Emilio.“ Ein Schluchzen brach sich Bahn. „Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du das hast durchmachen müssen. Ich ertrage die Vorstellung nicht, wie du hier allein und hilflos hast sitzen müssen.“
    Seine Arme schlossen sie wie in ein eisernes Band, seine Stirn in ihre Halsmulde gelegt. Sie atmete seinen Duft ein und mit dem Duft den Schmerz und das Leid der einsamen Seele, die er so lange vor jedem verborgen gehalten hatte.
    Nach einem ewig scheinenden Moment ließ Emilio sie los und hielt sie auf Armeslänge von sich weg. „Andere Kinder sollen nie mitmachen müssen, was ich mitgemacht habe. Ich will nicht, dass sie ihr Leben lang die Frage mit sich herumschleppen, wohin ihre Mutter gegangen ist und warum sie nicht zurückkam. Dass sie sich fragen müssen, ob ihre Mutter überhaupt noch lebt. Ich will nicht, dass sie sich bei jedem vorbeigehenden Mann in einem bestimmten Alter fragen, ob das vielleicht ihr Vater sein könnte.“
    „Du bist ein außergewöhnlicher Mensch, Emilio.“ Gisele legte die Hand an seine Wange. „Ich habe nie einen bemerkenswerteren getroffen.“
    „Niemand weiß von diesem Ort, ich habe ihn nie jemandem gezeigt. Nicht einmal die Sozialarbeiter der Stiftung wissen, dass ich von hier stamme.“
    „Danke, dass du es mir gezeigt hast“, sagte sie leise. „Jetzt bewundere ich dich noch mehr.“
    Er verzog leicht den Mund und verschränkte seine Finger mit ihren. „Lass uns von hier verschwinden. Dieser Ort ist mir noch immer unheimlich.“
    Emilio verschloss die Haustür der Villa und schaltete das Außenlicht aus. „Geh du schon nach oben, cara . Ich rufe noch im Zentrum an und frage nach, wie es mit Daniela aussieht. Es wird nicht lange dauern, ich komme gleich nach.“
    Er sah ihr nach, wie sie die Stufen hinaufstieg. Auf halber Treppe drehte sie sich noch einmal um und schaute zu ihm zurück. Die Sehnsucht in ihren Augen fuhr ihm direkt ins Blut.
    Ihr von seiner Kindheit zu erzählen hatte reinigende Wirkung gehabt, er fühlte sich gut. Es war, als hätte

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