Julia Extra Band 0193
Reinigung begann, traten ihr vor Schmerz die Schweißperlen auf die Stirn. Dray, der in der Zwischenzeit, geduscht und umgezogen, hinzugekommen war, hielt es nicht aus.
„Herrgott noch mal, John, jetzt gib ihr schon endlich die Spritze! Siehst du denn nicht, dass sie fast ohnmächtig wird?“
John blickte von seiner konzentrierten Arbeit auf und bemerkte sofort, wie blass Cass war. Aber er bemerkte auch das unwillige Stirnrunzeln.
„Dray hat recht“, sagte er leise. „Ich kann das Glasstück sehen, aber ich muss tiefer schneiden.“
Cass gab auf. „Na schön, tun Sie, was nötig ist.“ Sie blickte zu Dray und erwartete, eine triumphierende Miene zu sehen. Immerhin hatte er gewonnen.
Doch nichts dergleichen ließ sich erkennen, nur eine pulsierende Ader an der Schläfe in seinem sonst völlig ausdruckslosen Gesicht. Und als John die Nadel ansetzte, drehte Dray sich abrupt um und verließ mit energischen Schritten den Raum.
„Er macht sich nur Sorgen“, murmelte John Michaelson.
Cass zog eine Grimasse. „Von mir aus kann er so viele Koller kriegen, wie er will.“
John grinste breit. „Koller? Drayton Carlisle und Koller? Ein sehr interessantes Konzept! Wirklich interessant!“ Er lachte sie an. „Sind Sie beide befreundet?“, wiederholte er ihre eigenen Worte.
Allerdings meinte er etwas anderes: befreundet wie ein „Liebespaar“.
„Ich kenne den Mann kaum“, erwiderte sie entrüstet.
Es stimmte ja auch. In einem Moment der galante, welterfahrene Charmeur, und im nächsten ein herrischer Autokrat.
„Fühlen Sie etwas?“
Cass blinzelte, bevor ihr klar wurde, dass John sich auf ihren Fuß bezog und nicht etwa auf ihren inneren Seelenzustand. „Nein, nichts mehr.“ Und dann hielt sie sehr, sehr still, während Dr. Michaelson eine lange, spitze Glasscherbe aus ihrer Fußsohle herauszog.
Während er die Wunde versorgte, plauderte er unbeschwert mit ihr, aber das Gespräch beeindruckte Cass nicht weiter.
Ihre Gedanken kreisten um Drayton Carlisle.
Wenn sie ehrlich wäre, hätte sie zugeben müssen, dass auch ihr Herz sich mit ihm beschäftigte. Aber ganz so weit war sie noch nicht.
4. KAPITEL
Jetzt, drei Jahre später, alarmierten Cass die gleichen energischen, näher kommenden Schritte. Sie hatte Tom erwartet, doch beim Anblick seines älteren Bruders versteifte sie sich automatisch. Sie war froh, dass sie eine Sonnenbrille trug. Er sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte.
Sie erhob sich, ohne auf seine angebotene Hand zu achten, und strich sich den Rock glatt. „Wo ist Tom?“
„Oben im Haus. Er will nicht hierherkommen.“
Oder vielleicht wollte der große Bruder es ja nicht. „Na schön.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Wenn er mit mir reden will … Er weiß, wo ich wohne.“
Sie legte die Kostümjacke über den Arm und marschierte los. Scheinbar hatte sie ihn damit überrascht, denn es dauerte ein paar Meter, bevor er sie einholte und am Arm festhielt.
„Cass, Tom will nicht herkommen, weil dieses Sommerhaus unschöne Erinnerungen in ihm weckt.“
„Unschöne Erinnerungen? Welche?“ Sie würde zu gern erfahren, was ihm noch alles als Ausrede einfallen würde. Aber scheinbar stellte sie zu hohe Ansprüche an seinen Einfallsreichtum.
„Es ist nicht wichtig“, tat er nur ab.
Sie ahnte, dass er etwas verheimlichte – und wenn es nur seine Gefühle für sie waren. Er verabscheute sie genauso wie sie ihn.
„Mit Tom zu reden ist auch nicht wichtig für mich“, erwiderte sie knapp und versuchte, seine Hand abzuschütteln.
Sein Griff wurde fester. „Also gut. Wenn ich es dir sage, kommst du dann mit zum Haus zurück?“
Hatte sie denn überhaupt eine Wahl? Sie nickte langsam – und wünschte sich im gleichen Augenblick, sie hätte es nicht getan.
„Deine Schwester hat sich hier mit einem ihrer Liebhaber getroffen. Tom hat es herausgefunden.“
Sie hätte ihm zu gern entgegengeschrien, dass sie ihm nicht glaube, dass er ein Lügner sei, aber dazu fehlte ihr die Überzeugung.
Dray deutete ihr Schweigen falsch. „Du wusstest es, nicht wahr?“
„Nein!“ Das konnte sie mit Entschlossenheit behaupten.
„Aber es wundert dich nicht.“
Cass schüttelte den Kopf. Sie wusste von einer Affäre, aber sie kannte die Details nicht. „Hast du es gewusst?“, stellte sie die Gegenfrage. „Vielleicht warst du es ja sogar, der es Tom erzählt hat?“
„Zweimal nein. Tom war derjenige, der es mir sagte. Und eigentlich habe ich bis heute nicht so recht daran
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