Julia Extra Band 0193
säuerlich. „Soll ich mir den Empfang quittieren lassen?“, fragte sie gallig.
„Wie bitte?“ Er wusste wirklich nicht, was diese Bemerkung sollte. „Hör zu, wir werden später reden, ich muss jetzt Schluss machen“, meinte er irritiert.
„Sicher, lass dich nur nicht aufhalten.“ Wütend knallte sie den Hörer auf. Sofort klingelte es wieder, aber sie dachte gar nicht daran, noch einmal abzuheben. Allerdings bewirkte das unablässige Klingeln, dass Ellie wach wurde. Also nahm Cass das Baby und beschloss, mit ihr einen Spaziergang im Park des Herrenhauses zu machen.
North Dean Hall hatte Generationen von Carlisles beherbergt. Es war zu einer Zeit gebaut worden, als man noch eine Armee von Bediensteten beschäftigte, die sich nur um eine Familie kümmerten. Das Haus mit seinen unzähligen Räumen und dem riesigen Park sprach von Reichtum und Status. Von einer Familie, die so viele Kinder hätte haben können, wie die Natur es erlaubte. Man konnte sich die Empfänge und Bälle und Soireen vorstellen, das Gelächter, das durch die Gänge und Korridore hallte.
Aber jetzt war das Haus leer. Für Dray mochte diese gewählte Zurückgezogenheit angehen, aber ob Ellie sich in diesen endlosen Zimmerfluchten je wohlfühlen könnte? Würde Ellie sich ungeliebt, wie ein vergessenes Kind vorkommen? Würde der Reichtum das alles aufwiegen können?
Cass fand keine Antworten auf diese Fragen. Aber dann kam das Kindermädchen an – ein junges, nervöses Ding, dazu mit einer schlimmen Erkältung –, und plötzlich wusste Cass eines ganz sicher: Das hier war kein Leben für ihre Nichte.
Sie schickte das Kindermädchen wieder fort, machte einen Anruf, ging nach oben und packte einige Kindersachen in eine Reisetasche. In der Küche bereitete sie zwei Milchflaschen vor. Als sie damit fertig war, fuhr das bestellte Taxi vor dem Haus vor, das sie zum Bahnhof brachte.
Sie verdrängte jedes Nachdenken über ihr Tun, bis sie im Zug nach London saß, und da war es schon zu spät, um noch etwas zu ändern. Ihr einziger Gedanke galt Ellie und Ellies Wohlergehen.
Sie hatte keine Erfahrung, wie aufreibend es war, mit einem kleinen Baby im Kinderwagen und allen notwendigen Utensilien auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Als sie endlich bei sich zu Hause ankam und die Tür aufschloss, war sie völlig erschöpft.
Sie schob den Kinderwagen in das ärmlich wirkende Wohnzimmer und sah sich um. Sie hatte weder ein Himmelbettchen noch Spielzeuge noch teure Babysachen. Und schon gar nicht das Geld, um so etwas zu kaufen. Dieses kleine Haus war selbst für sie nie ein richtiges Heim gewesen, und jetzt musste sie sich daran erinnern, warum sie Ellie aus einer hochherrschaftlichen Luxusvilla hierhergebracht hatte. Sie brauchte sich nur das verschnupfte junge Ding ins Gedächtnis zu rufen – und Dray Carlisle, so ungerührt und gleichgültig.
Allerdings ließ sich diese andere Stimme auch nicht überhören: Was hatte sie Ellie alles genommen – das große Haus, den großen Park, die Eliteschulen, die Spielzeuge und Kleider und Geschenke.
„Das sind alles nur materielle Dinge und zählen nicht“, sagte Cass laut in den Raum hinein, als müsse sie sich selbst überzeugen.
Doch was konnte sie diesem Baby bieten? Liebe? Damit hatte sie schon immer Schwierigkeiten gehabt. Eine Familie? Was, wenn ihr etwas zustieß? Sie war die Einzige, die von ihrer Familie noch übrig war. Eine Zukunft? Sie wusste ja noch nicht einmal, was sich in der nächsten Stunde ereignen würde.
Was hatte sie nur getan? Cass schaute auf ihre schlafende Nichte, und langsam dämmerte es ihr. Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken. Wie immer, wenn es irgendwie mit Drayton Carlisle zu tun hatte. Und jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben.
Nur um irgendetwas zu tun, nahm sie ihre Post auf und begann die Briefe zu lesen. Was ihr ihre momentane Situation aber nur noch deutlicher klarmachte. Ein Brief stammte vom Bafög-Amt mit einem aktuellen Kontoauszug ihrer verbliebenen Raten. Der andere kam von der Gemeinschaftspraxis in Slough, mit der Frage, ob sie schon am nächsten Montag anfangen könne.
Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin. Wie sollte sie das machen? Wie sollte sie ihre Laufbahn als Ärztin und alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen?
Es sah ganz danach aus, als müsse sie sich entscheiden – entweder ihre Karriere oder das Baby.
Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen, und Cass hatte noch immer keine Lösung
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