Julia Extra Band 0193
telefonierte, Alice saß am Tisch und malte.
“Ich muss noch einmal hinaus”, sagte Callum, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. “Können Sie den Kindern Abendbrot machen und prüfen, ob sie ihre Schularbeiten gemacht haben?”
“Ja, natürlich”, antwortete Zoë. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Callum sie erst einmal in ihre neue Arbeit einweisen würde, doch ehe sie darauf zu sprechen kam, nahm er die Schlüssel vom Sideboard und die Jacke, die neben der Tür hing. “Über Ihre Pflichten reden wir später”, sagte er. “Alice geht um acht Uhr ins Bett und Kyle eine halbe Stunde später.” Ein schwarzer Collie sprang unter dem Tisch hervor und folgte seinem Herrn zur Tür. Callum drehte sich noch einmal um und fragte: “Sie kommen doch mit allem zurecht, oder?”
“Selbstverständlich”, antwortete Zoë ungehalten. “Ich bin eine ausgebildete Köchin und habe ein Diplom im Fach Kinderpflege. Dafür bezahlen Sie mich ja auch, nicht wahr? Soviel ich weiß, hat mein Boss, Martin Fellows, Ihnen meine Referenzen geschickt, oder nicht?”
“Ja.” Einen Augenblick zögerte Callum, dann seufzte er. “Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, rufen Sie bitte Ellen an. Sie wohnt nicht weit von hier.” Er ging zum Telefon und schrieb eine Nummer auf. Bevor er hinausging, gab er Alice einen Kuss aufs Haar und bat: “Sei lieb zu Zoë!”
Zoë trat an die Tür, die zum Garten führte, und beobachtete, wie der Hund auf den Rücksitz des Land Rovers sprang, während Callum sich ans Steuer setzte.
“Wohin fährt denn dein Vater jetzt noch? Es ist doch schon fast dunkel”, fragte sie Alice.
“Zur Arbeit. Jetzt werden die kleinen Lämmer geboren, deswegen muss er manchmal noch spät hinausfahren”, antwortete sie, ohne von ihrer Malerei aufzublicken.
Zoë sah sich in der Küche um. Im Spülbecken stand ein Berg schmutziger Teller, und auf dem Tisch daneben waren neben allerhand Papier viele Tassen gestapelt. Abgesehen davon aber war es eine hübsche, gemütliche Landhausküche. Die Schränke waren aus Kiefernholz, der Fußboden war mit dunklen Fliesen ausgelegt, und ein riesiger Kachelofen spendete wohltuende Wärme. Es wird nicht lange dauern, bis ich hier Ordnung geschafft habe, dachte sie, aber zuerst muss ich mich um das Abendbrot der Kinder kümmern.
“Was wollt ihr denn heute Abend essen?”, fragte sie, nachdem sie einen Blick in den Kühlschrank geworfen hatte.
“Würstchen und Chips?”, antwortete Alice hoffnungsvoll.
“Und was habt ihr zu Mittag gegessen?”
“Pizza und Chips.”
“Hmm. Wie wäre es denn mit einer Schäferpastete? Vorausgesetzt ich finde irgendwo Fleisch im Kühlschrank.”
“Oh ja!” Alice sprang von ihrem Stuhl auf und öffnete den Tiefkühlschrank. “Sieh mal, was hier alles drin ist”, sagte sie.
“Danke.” Zoë lächelte das kleine Mädchen an und nahm einige Dinge aus den Kühlfächern. “Wo steckt eigentlich dein Bruder?”
“Draußen.”
“Draußen? Warum ist er denn draußen?”
“Weiß nicht.” Alice zuckte mit den Schultern.
Zoë lief zur Tür. Der Hof lag im tiefsten Dunkel. Außerdem war es bitterkalt. Wie leicht konnte einem achtjährigen Jungen in dieser Finsternis etwas zustoßen?
Sie öffnete die Tür und rief laut: “Kyle, bitte komm herein! Ich habe Angst um dich.”
Es kam keine Antwort. Die eisige Luft benahm Zoë den Atem. “Kyle, bitte!”, rief sie noch einmal.
Der Mond kam hinter einer Wolke hervor, sodass sie die schattigen Umrisse der Scheune und Ställe erkennen konnte, doch nirgends gab es ein Zeichen von Kyle.
“Bist du sicher, dass er nicht im Haus ist?”, fragte sie und schloss die Tür.
Wo steckt er nur? fragte sich Zoë, nachdem sie in allen Räumen nachgeschaut hatte. Ihr Herz klopfte gegen die Rippen. Was wird Callum sagen, wenn er nach Hause kommt und seinen Sohn nicht vorfindet? Sie erinnerte sich, wie er an der Tür stand und zögerte, bevor er hinausging. Hatte er ihr etwa nicht zugetraut, mit den Kindern fertigzuwerden? Dabei war sie durchaus tüchtig und zuverlässig. Ihre Schuld war es nicht, dass Kyle verschwunden war.
Noch einmal öffnete sie die Küchentür und drohte: “Kyle, wenn du nicht augenblicklich hereinkommst, gibt es Ärger!”
Doch die einzige Antwort darauf war der unheimliche Schrei eines Vogels.
Callum blickte auf die Uhr und dann auf das tote Mutterschaf zu seinen Füßen. Fast eine Stunde lang hatten sie sich bemüht, das Leben des Tieres zu retten. Vergebens. Dann hatten
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