JULIA EXTRA BAND 0261
Tropfflasche.
Die Männer an Bord vertäuten das Boot. Nell musste warten, bis sie den Buggy an Land gebracht hatten. Nervös drängte sie die Männer zur Eile, obwohl sie genau wusste, dass sie ihre Sprache nicht verstanden.
„ Piano, piano, signora “, versuchten sie, sie zu beschwichtigen.
Sobald sie den Buggy hatte, eilte Nell davon.
„ Signora ?“ Ein Sicherheitsbeamter stellte sich ihr in den Weg.
„Ich bin mit Dr. Barbaro gekommen.“
Der Beamte rührte sich keinen Schritt.
„Sie müssen mich hineinlassen. Dr. Barbaro ist mit meiner Tochter da drin.“ Sie zeigte auf das Krankenhaus und hoffte, dass er sie verstand. „Sie haben sie sicher gesehen, es ist erst ein paar Minuten her. Ich muss da rein!“
Doch er verstand sie nicht. „ Signora, per favore … “
„Nein! Ich muss hinein!“ Sie weinte fast und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen.
„ Mi dispiace, signora .“ Der Beamte schüttelte den Kopf.
„Sie müssen mich hineinlassen, meine Tochter ist da drin!“ Nell warf sich gegen ihn. „Mein Kind ist da drin!“
Der Beamte nahm sie beim Arm und führte sie bestimmt durch die große Tür und zu einem Rezeptionstresen. Nell wusste nicht, durch welche Tür Molly verschwunden war.
Ihr Albtraum war wahr geworden. Luca hatte Molly mit sich genommen, und sie stand alleine da. Nell wurde schwindelig,da öffnete sich eine Tür.
„ In primo luogo, signora, dove fare questo … “
„Was muss ich tun?“ Nell starrte auf das Formular, das ihr der Beamte reichte. „Oh nein, signore … “
„ Si “, beharrte er. „ Per favore .“
Ein Blick auf die Türen, die sie von Molly trennten, überzeugte Nell. Sie füllte das Formular aus, so gut sie es mit ihren mageren Italienischkenntnissen vermochte.
„Kann ich nun hinein?“ Nell fühlte sich wie ein Kind, das um alles bitten muss.
„ Si, signora .“ Der Beamte trat zur Seite und ließ sie passieren.
Seine Haltung war nun viel freundlicher. Sie würde ihm alles verzeihen, wenn sie jetzt nur zu Molly konnte.
Der erste Korridor war lang und eintönig. Am Ende des Ganges hatte sie zwei Richtungen zur Auswahl. Dann öffnete sich eine Tür, als seien ihre stummen Gebete erhört worden.
„Meine Tochter, mia figlia … ?“ Nell suchte nach Worten, als die Schwester auf sie zutrat.
„ La piccola raggazina ?“
„ Si !“
Die Krankenschwester legte Nell eine Hand auf den Arm. „Hier entlang, signora. Kommen Sie …“
Das Lächeln und die Zuversicht der Schwester machten Nell Mut. Sicher war das ein Zeichen, dass es Molly besser ging. Als sie durch die Doppeltür traten, schlug ihnen der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Nell fühlte sich schmerzhaft an jenen Tag von Jakes Tod zurückversetzt. Sie fühlte die Hand der Schwester an ihrem Ellbogen und entspannte sich.
Molly lag in einem Berg von Decken. Ihre dünnen Ärmchen lagen auf den Laken, die winzigen Fäustchen darin vergraben.
Zum ersten Mal, seit sie bewusstlos geworden war, hoffte Nell, dass ihre Tochter nichts spürte, dass sie nicht erleben musste, wie ihr Körper um Luft kämpfte. Nell wollte das Herz bei ihrem Anblick brechen.
Luca stand am Bett. Er sah sich nach Nell um, als habe er bereits auf sie gewartet. Die Schwester stand am anderen Ende des Bettes.
„Sonst können Sie gar nichts tun?“, fragte sie. Sie hatte es geahnt.
Luca befeuchtete seine Lippen, bevor er antwortete. „Nein.“
Nell wartete, doch er schwieg. Sie kniete sich neben das Bett, nahm die Hand ihrer Tochter und drückte sie an ihre Wange. Dann geschah das Wunder, auf das sie so gehofft hatte. Molly schlug die Augen auf und sagte heiser: „Mummy.“
4. KAPITEL
Zehn Jahre später
„Nein. Das könnt ihr nicht von mir verlangen. Ich hasse Venedig. Im Leben fahre ich da nicht hin. Nicht einmal für die Organisation.“
Nell war aufgebracht gewesen, als das Komitee auf sie zugekommen war, um sie zu der Reise zu überreden. Und jetzt war sie doch hier, in Venedig, um über die Angehörigenunterstützung für Patientenfamilien zu referieren, die sie vor beinahe zehn Jahren ins Leben gerufen hatte.
Inzwischen war sie eine geübte Sprecherin, aber dennoch war sie heute nervös und unausgeglichen. Das musste an Venedig und ihren bitteren Erinnerungen daran liegen. Im Grunde hatte sie nur einen Mann zu überzeugen, den ärztlichen Vorstand des Krankenhauses, das zugleich von dessen Familientrust finanziert wurde. Dieses bekannteste, größte Krankenhaus sollte Vorreiter für die
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