JULIA EXTRA BAND 0272
sechs war, hat sie mich verlassen … Vielleicht war ich auch sieben, ich weiß gar nicht mehr genau. Sie ist morgens aus dem Haus gegangen und nicht zurückgekommen. Ich habe sie nie wiedergesehen.“
In diesem Moment hätte Tally ihn gern in den Arm genommen, doch sie spürte, dass es nicht der richtige Augenblick war, und hielt sich zurück.
„Das tut mir leid. Es muss … schlimm gewesen sein.“
Er zuckte nur die Schultern, als er aber weitersprach, hörte sie die Anspannung in seiner Stimme.
„Ich hab’s überlebt.“
„Mehr als das. Aus dir ist ein wunderbarer Mensch geworden.“
Dante schaute sie an. „So wunderbar nun auch wieder nicht“, schränkte er ein. „Sonst wärst du damals nicht weggegangen.“
Diesmal streckte sie die Hand nach ihm aus, um ihm zärtlich über die Wange zu fahren.
„Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen“, erklärte sie.
„In diesem kleinen Haus in Vermont?“
Sie nickte. „Meine Mutter war … na ja … Grandma nannte sie flatterhaft.“ Tally rang sich ein Lächeln ab. „Sie hat mich auch verlassen. Und meinen Vater habe ich nie kennengelernt.“
Dante zog sie in seine Arme.
„Wir sind schon so ein Pärchen“, meinte er sanft.
Jetzt lächelte Tally übers ganze Gesicht. „Stimmt. Umso wichtiger ist es, dass ich … dass wir nicht dieselben Fehler machen wie unsere …“
„Richtig“, unterbrach er sie, während er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr schob. „Und ich weiß auch schon eine Lösung.“
„Es gibt keine. Ich muss Sam beschützen.“ Sam und mich selbst.
„Aber ja, es gibt eine. Willst du sie hören?“ Dante hob ihr Kinn an. „Ihr zieht aus der Gästesuite aus …“
Tally war so enttäuscht, dass ihr fast die Tränen kamen,aber sie zwang sich, vernünftig zu sein und zu nicken.
„Natürlich. Ich werde mich sofort nach einer Wohnung umsehen und ….“
„… und zieht bei mir ein“, fuhr er fort. „Wir werden Sam gegenüber kein Geheimnis daraus machen, dass … dass wir zusammen sind. Wir werden einfach alle drei wie eine richtige Familie zusammenleben.“
Tally blickte ihn wortlos an und suchte nach den richtigen Worten, um seinen Vorschlag abzulehnen.
„Tally.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Bitte. Sag, dass du mit mir zusammen sein willst. Ich ertrage es nicht, dich noch einmal zu verlieren. Bitte!“
In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Aber Tally verdrängte alle Zweifel, indem sie nur auf ihr Herz hörte und sagte: „Ja. Ich will mit dir zusammen sein.“
Es hätte sich eigentlich als Fehler herausstellen müssen. Vielleicht sogar als der größte Fehler seines Lebens, angesichts der Tatsache, dass Dante bis vor Kurzem noch nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, sein Leben mit einer Frau zu teilen. Er war daran gewöhnt, keinerlei Rücksicht nehmen zu müssen, und schon gar nicht auf ein kleines Kind. Bei Licht betrachtet war das Scheitern vorprogrammiert.
So oder ähnlich hätte er zumindest noch vor einer Woche argumentiert, wenn ihn jemand nach seiner Meinung gefragt hätte. Eine hausgemachte Katastrophe hätte er es wahrscheinlich genannt …
Dante stand am Fenster und schaute auf die glitzernden Lichter Manhattans hinab.
Was für ein Irrtum!
Mit Tally und Sam zu leben hatte sich als die beste Entscheidung seines Lebens erwiesen. Nie und nimmer hätte er sich träumen lassen, dass ihm eine Familie so viel bedeuten könnte, und er war überglücklich, dass er mit Tally eine zweite Chance bekommen hatte.
Die erste hatte er vor drei Jahren vertan. Aus schierer Gedankenlosigkeit, wie ihm mittlerweile klar geworden war. Er hatte Tally wie einen schönen Gegenstand behandelt, den man aus dem Regal nimmt, um ein wenig damit zu prahlen, und dann wieder zurückstellt. So hatte er es bis dahin mitallen Frauen gemacht. Er hatte sie auf Abstand gehalten, ihnen teure Geschenke gemacht, und nach einer gewissen Zeit hatte er sie möglichst elegant entsorgt. Dante biss die Zähne zusammen.
Mit Tally war es von Anfang an anders gewesen. Und zwar in jeder Hinsicht. Sie war von sich aus auf Abstand bedacht gewesen. Große Geschenke hatte sie gar nicht erst angenommen und die kleineren bei ihrem Weggang dagelassen. Und sie hatte ihn nie gelangweilt. Nicht eine Sekunde. Weder im Bett noch anderswo.
Das war ihm vor drei Jahren irgendwann aufgegangen, aber diese Erkenntnis hatte er nicht zulassen können.
Es war schlicht einfacher gewesen, sich einzureden, sie sei eine Frau wie alle anderen
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