JULIA EXTRA BAND 0273
keine Wahl, denn sie brauchte dringend Geld. Und wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich auch nach der Sicherheit, die das an eine Festung erinnernde Gray Manor bieten würde.
Sich um ein kleines Mädchen zu kümmern wäre außerdem sicher viel einfacher als ihre Arbeit in den vergangenen zwei Jahren. Laurel hatte in Osteuropa Kindern Englischunterricht gegeben und bei deren medizinischer Versorgung geholfen. Die neue Stelle auf Gray Manor war die perfekte Lösung zwischen den furchtbaren Erlebnissen, die sie hinter sich hatte, und dem Leben, das sie sich irgendwann in der Zukunft aufbauen wollte: als Schullehrerin, vielleicht in einer ländlichen Gegend – ein ruhiges, ganz normales Leben.
Doch würde das je möglich sein? Angesichts ihrer Vergangenheit zweifelte Laurel daran. Sie hatte sich selbst in eine Situation gebracht, die mit Normalität nichts zu tun hatte.
Nie zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt. Als der Wind erneut zunahm, zitterte sie vor Kälte. Es war, als würde eine flüsternde Stimme sie vor Unheil warnen wollen: Lauf weg, bevor es zu spät ist!
Doch Laurel war noch nie weggelaufen, wenn sie sich zu etwas verpflichtet hatte, und auch jetzt würde sie es nicht tun. Denn ihr war klar, dass Angst, wie die meisten Gefühle, nur eine Illusion war. Eine von den vielen Lügen in ihrem Leben.
Sie hob die Hand und drückte auf den Knopf an der Sprechanlage.
Es knackte, dann hörte man eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. „Ja, bitte? Wer ist da?“
„Laurel Midland.“
Als keine Antwort kam, fügte sie unsicher hinzu: „Ich bin das … das neue Kindermädchen.“
„Ach so! Einen Moment, bitte.“ Der Lautsprecher ging aus, und kurz darauf machte das Tor ein klickendes Geräusch und begann sich langsam zu öffnen. Die Torflügel erschienen Laurel wie die verhängnisvollen Arme des Schicksals, die sie zu sich lockten.
Sie schüttelte den Kopf angesichts ihrer blühenden Fantasie und lockerte den verkrampften Griff, mit dem sie den kleinen abgenutzten Lederkoffer hielt. Darin befand sich ihr gesamter Besitz: Kleidung, Ausweis und andere Papiere sowie das winzige Armband mit ihrem Namen, das sie als Baby im Krankenhaus bekommen hatte. Nachdem Laurel zur Beruhigung einmal tief eingeatmet hatte, ging sie die Auffahrt entlang zur Eingangstür des großen Hauses.
Gerade als sie klopfen wollte, wurde die Tür von einer untersetzten kleinen Frau geöffnet. Sie hatte sich das weiche weiße Haar auf dem Kopf aufgetürmt und trug ein zartblaues Kleid mit einem Gürtel um ihre üppige Körpermitte. Lächelnd sagte sie: „Guten Tag, Miss Midland! Wir freuen uns ja so, dass Sie da sind. Ich bin Myra Daniels und arbeite hier bereits seit mehreren Jahrzehnten als Haushälterin. Aber kommen Sie doch erst einmal herein, meine Liebe, bleiben Sie nicht draußen in der Kälte stehen!“ Sie nahm Laurel den Koffer ab und plauderte fröhlich weiter, während sie ihre Besucherin in eine wunderschöne Eingangshalle mit Marmorboden führte. „Willkommen auf Gray Manor“, sagte sie und stellte den Koffer am Fuß einer eleganten Treppe ab.
„Vielen Dank.“ Laurel war sehr erleichtert, dass die Begrüßung um einiges herzlicher war, als sie erwartet hatte.
„Ihr künftiger Schützling heißt Penny. Sie ist sechs Jahre alt und hat in ihrem kurzen Leben schon so einiges durchgemacht“, berichtete Mrs. Daniels. „Vor eineinhalb Jahren hatten ihre Eltern einen Autounfall, bei dem Angelina, Pennys Mutter, ums Leben kam.“
Obwohl Laurel das Mädchen noch nicht einmal kennengelernt hatte, war sie voller Mitgefühl. „Wie furchtbar!“, sagte sie.
Myra Daniels nickte nur kurz. „Ja, das Ganze war sehr tragisch für die Kleine. Deswegen tut ihr Vater sich auch ein wenig schwer damit, die richtige Betreuung für seine Tochter zu finden. Er hat sehr genaue Vorstellungen davon, was für eine Person er einstellen möchte, aber leider liegt er damit völlig falsch.“
Wie Laurel auffiel, hatte die Haushälterin nicht gesagt, dass auch der Vater um die verstorbene Angelina trauerte. Doch natürlich wollte sie nicht danach fragen. „Was für ein Mensch wäre seiner Meinung nach denn geeignet?“
Myra Daniels machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Ach, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie sind genau die Richtige, das kann ich jetzt schon mit Sicherheit sagen. Und nun wird Miles Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer bringen. Miles!“, rief sie und dann gleich noch einmal: „ Miles!“
„Ich komme ja
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