JULIA EXTRA BAND 0273
schon.“ Ein älterer Mann, groß und schlank, der durch seine gebeugte Körperhaltung fast wie ein Fragezeichen aussah, kam in die Eingangshalle geschlurft. Das Licht der Wandleuchter spiegelte sich auf der kahlen Oberseite seines Kopfes. „Du kannst aufhören zu brüllen.“ Als er aufblickte und Laurel sah, entspannte sich sein Gesichtsausdruck. „Oh, guten Tag. Sind Sie das neue Kindermädchen?“
„Ja.“ Sie reichte ihm die Hand. „Ich heiße Laurel Midland.“
„Miles Kerry“, erwiderte der Mann lächelnd und zeigte dabei seine schiefen Zähne. „Sie sind aber jung!“
Laurel war ein wenig vor den Kopf gestoßen. „So jung nun auch wieder nicht.“
„Haben Sie Mr. Gray schon kennengelernt?“
„Noch nicht“, fuhr Mrs. Daniels schnell dazwischen und brachte Miles mit einem warnenden Blick zum Schweigen. „Bringe jetzt bitte erst einmal Miss Midlands Gepäck auf ihr Zimmer, während ich ihr das Haus zeige.“
„Das ist nicht nötig“, dröhnte eine männliche Stimme. „Sie wird nämlich nicht bleiben.“
Laurel zuckte zusammen und wandte sich um. Ein äußerst gut aussehender Mann mit breiten Schultern näherte sich. Er trug ein legeres Business-Outfit, das an ihm jedoch aus irgendeinem Grund sehr formell wirkte. Vielleicht lag es an seinem allgemein eher kühlen, förmlichen Auftreten.
„Das ist Mr. Gray“, erklärte Mrs. Daniels, nahm Laurels Arm und führte sie zu dem Mann. „Charles, das hier ist Laurel Midland,Pennys neues Kindermädchen.“
Mr. Gray warf seiner Haushälterin nur einen ungeduldigen Blick zu, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Laurel und sah sie mit seinen grünen Augen durchdringend an. Sein Gesicht hatte eigentlich recht sympathische Züge: eine gerade Nase, ein schön geschwungener Mund, ein markantes Kinn und leicht zerzaustes sandbraunes Haar, das ihn ein wenig wie einen kleinen Jungen wirken ließ, der den ganzen Tag gespielt hatte.
Und doch waren vor allem seine Augen, die Kühle und Scharfsinn ausdrückten, ausschlaggebend für seine strenge Ausstrahlung. Es waren die Augen eines Mannes, der schon zu viele Dinge gesehen und darüber das Zweifeln gelernt hatte.
„Ich dachte, ich hätte mich in dieser Angelegenheit klar ausgedrückt“, sagte er zu seiner Haushälterin.
„Allerdings“, stimmte diese ihm zu. „Aber möchtest du Miss Midland denn nicht begrüßen?“
Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, dann beschloss Laurel, den Stier bei den Hörnern zu packen. „Schön, Sie kennenzulernen“, sagte sie und reichte ihm lächelnd die Hand. Sicher war es das Beste, unvoreingenommen an die ganze Sache heranzugehen und sich nicht von Mr. Grays abweisendem Blick einschüchtern zu lassen.
Doch als dieser ihre Hand nur kühl musterte, zog Laurel sie zurück.
„Ich freue mich, hier zu sein“, fügte sie hinzu und war sich bewusst, dass ihre Worte völlig unpassend klangen.
„Tatsächlich?“, fragte Charles Gray und ließ den Blick über sie gleiten.
„Ja …“ Was sollte Laurel denn sonst sagen? Immerhin war er ihr Arbeitgeber, also musste sie sich freundlich und diplomatisch verhalten. „Und ich bin auch schon sehr gespannt auf Penny. Bestimmt werden wir eine Menge Spaß miteinander haben.“
„Eine Menge Spaß“, wiederholte er, warf Mrs. Daniels einen vielsagenden Blick zu und sah dann wieder Laurel an. „Ist das Ihrer Meinung nach Ihre Aufgabe als Kindermädchen – dafür zu sorgen, dass Ihr Schützling viel Spaß hat?“
Laurel wusste nicht, welche Antwort Mr. Gray auf diese Frage hören wollte. Doch über ihre eigene Meinung in dieser Angelegenheit war sie sich im Klaren und beschloss, ehrlich zu sein.
„Ja, ich glaube, darin besteht ein großer Teil dieser Aufgabe“, bestätigte sie nickend.
Wieder sah Mr. Gray seine Haushälterin an. „Du siehst sicher das Problem.“
„Wie bitte?“, fragte Laurel.
Ohne zu antworten, sagte er zu Mrs. Daniels: „Wie du weißt, liegt mir nicht in erster Linie die Unterhaltung meiner Tochter am Herzen, sondern ihre Erziehung und Bildung.“
Laurel fühlte sich, als würde sie eine Auseinandersetzung belauschen, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollte.
„Charles, du hattest doch versprochen, es wenigstens zu versuchen.“
„Entschuldigung“, meldete Laurel sich zu Wort, „aber kann ich irgendetwas tun, um Ihre Bedenken auszuräumen, Mr. Gray?“
Er blickte sie an. „Nein, ich glaube nicht.“
Laurel hatte das Gefühl, die Stelle würde ihr wie Sand durch die
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