JULIA EXTRA BAND 0273
„Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, also sicher nicht wesentlich jünger als Sie selbst.“
„Sie könnten genauso gut hundert Jahre jünger sein“, sagte Charles ein wenig müde, und wieder hatte sie das Gefühl, er würde eher mit sich selbst sprechen.
„Ach, jetzt hören Sie doch auf.“ Sie bemühte sich nicht mehr, den Anschein eines formellen Gesprächs zwischen Angestellter und Arbeitgeber aufrechtzuerhalten. „Wie alt sind Sie denn? Sechsunddreißig?“
„Achtunddreißig.“
Laurel lachte. „Und damit sind Sie zu alt, um sich zum Beispiel Hals über Kopf in eine Frau zu verlieben und mit ihr ein neues Leben zu beginnen?“ Eine leise innere Stimme gab ihr warnend zu verstehen, dass sie sich auf sehr gefährliches Terrainvorgewagt hatte, doch nun war es zu spät.
Ganz ruhig blickte Charles ihr in die Augen und erwiderte: „Von solchen Dingen hält mich nicht mein Alter ab, sondern mein Sinn für die Realität.“
„Den manche Leute auch als ‚Zynismus‘ bezeichnen würden“, fügte Laurel betont gelassen hinzu. Insgeheim war sie jedoch gespannt auf seine Antwort.
„Sie zum Beispiel?“
Bis vor Kurzem nicht, dachte sie. Und jetzt? „Ich weiß es nicht genau“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und zuckte die Schultern. „Aber ich kann nachvollziehen, warum Sie so denken.“
Charles lachte. „Dass eine Frau wie Sie so etwas versteht, möchte ich doch stark bezweifeln.“
Laurel wusste nicht, ob sie gekränkt sein sollte oder nicht. „Und warum?“
„Weil Sie in allen Dingen so leidenschaftlich sind.“
Bei seinen Worten wurde ihr Gesicht ganz warm. „Finden Sie?“
„Jemand, der eine so temperamentvolle Auseinandersetzung über den Besuch eines Halloween-Festes führen kann, muss einfach ein leidenschaftlicher Mensch sein.“
Etwas an Charles’ Blick machte ihr klar, dass dies keinesfalls eine Beleidigung sein sollte.
„Es ging nicht um das Fest“, entgegnete Laurel. Sie hoffte inständig, Charles würde nicht bemerken, dass ihre Wangen noch immer gerötet waren. „Sondern um Penny.“
„Ich weiß“, erwiderte er. „Ich erinnere mich noch genau daran, was Sie gesagt haben.“ Er ließ den Blick über sie gleiten, atmete ein und wollte etwas hinzufügen, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen. „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses Gespräch zu führen.“
Verwirrt blickte Laurel ihn an. „Warum denn nicht?“
„Weil es … weil es spät ist.“ Charles schaute demonstrativ nach draußen, wo es bereits stockfinster war. Die Uhr zeigte jedoch erst neun an.
Laurel beschloss, ihm nicht zu widersprechen. Wenn er sie angesichts der Ereignisse nicht aus dem Haus warf, sondern nur aus dem Zimmer, war es das Beste, seiner Anweisung zu folgen. Sie hätte zwar sehr gern seine alberne Behauptung, sie wäre zu jung für diese Aufgabe, ein für alle Mal aus der Welt geschafft,riss sich jedoch zusammen.
„In Ordnung“, erwiderte sie nur. „Dann also bis morgen.“
Er nickte nur kurz. „Bis morgen.“
Laurel ging hinaus. Charles Grays Distanziertheit, seine Sturheit, die raren Augenblicke, wenn er nicht auf der Hut war und ihr unabsichtlich Einblick in seine Gedanken gewährte, das seltene, aber atemberaubende Lächeln, das er ihr schenkte, seine außen leicht tiefer stehenden Augen, die ihn aussehen ließen wie den gequälten Helden eines Liebesfilms … das alles machte sie halb verrückt.
Während Laurel durch die breiten Gänge eilte, dachte sie an all die Dinge, die sie hätte sagen sollen. Wäre sie nur etwas schlagfertiger gewesen!
Sie hätte Charles fragen sollen, ob ihm das Wohlergehen seiner Tochter wirklich am Herzen lag – oder ob es nur nach außen so aussehen sollte. Denn wenn er tatsächlich das Beste für Penny wollte, sollte er seine vorgefertigte Meinung über Bord werfen und einfach beobachten, wie sie auf ihre jetzige Situation reagierte.
Laurel betreute das Mädchen zwar erst seit sehr kurzer Zeit, hatte es jedoch schon sehr ins Herz geschlossen. Und sie wusste, dass auch Penny an ihr hing. Natürlich war die Kleine noch ein wenig zurückhaltend – offenbar ein Charakterzug, den sie von ihrem Vater geerbt hatte –, doch sie öffnete sich Laurel jeden Tag ein wenig mehr.
In Laurels erster Zeit auf Gray Manor hatte das Verhalten des Mädchens oft abrupt zwischen Misstrauen und Zuneigungsbekundung geschwankt. Penny hatte ihr vorgeworfen, sie irgendwann im Stich zu lassen: „Alle gehen wieder weg“, waren ihre Worte gewesen.
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