JULIA EXTRA BAND 0273
Vertrauen, dachte Laurel, darum geht es. Penny lernte jetzt langsam, ihr zu vertrauen.
Und sollte Charles seinen Willen durchsetzen, wäre Laurel tatsächlich gezwungen zu gehen. Und Penny würde immer glauben, dass es an ihr lag. Sie würde diese Überzeugung verinnerlichen und ein äußerst misstrauischer Mensch werden. Um das vorauszusehen, brauchte man kein Psychologe zu sein. Es war zum Verrücktwerden! Warum hört Charles nur nicht auf mich, überlegte Laurel verzweifelt. Nahm er ihre Ansichten nicht ernst, weil sie in seinen Augen zu jung war? Hielt er sie für dumm? Glaubte er, sie würde sich täuschen?
Plötzlich stand sie vor Pennys Zimmertür. Sie hatte sich gar nicht bewusst vorgenommen, nach dem Kind zu sehen, sondern ganz instinktiv gehandelt. Manchmal hatte sie das Gefühl, Penny noch mehr zu brauchen als das Mädchen sie …
Laurel öffnete vorsichtig die Tür und schlich leise über den Teppich. Das Nachtlicht aus Buntglas, das warm schimmerte, war zwar wunderschön, aber wie so viele andere Dinge im Haus viel zu edel für ein Kind. Als Laurel es durch eins mit Teddymotiv hatte ersetzen wollen, hatte Mrs. Daniels sie gewarnt: Bevor sie irgendetwas in Pennys Umfeld veränderte, sollte sie mit Charles darüber sprechen. Und Laurel konnte sich lebhaft vorstellen, wie so ein Gespräch verlaufen würde.
Sie ging zum Bett und betrachtete die friedlich schlummernde Penny. Ein zartes Ärmchen um Marigold geschlungen, atmete sie tief und regelmäßig. Laurel musste daran denken, wie viel Trauriges und Angsteinflößendes in der Welt des kleinen Mädchens schon passiert war, und hätte das alles am liebsten ungeschehen gemacht. Und vielleicht wollte sie auch ihre eigenen schmerzlichen Kindheitserinnerungen verarbeiten, indem sie Penny half.
Laurel setzte sich auf den Rand des Bettes und strich dem Kind sanft das Haar aus der Stirn. Sie bedauerte, nicht zeichnen zu können. Denn dann hätte sie den Anblick des unschuldig schlafenden Mädchens festgehalten, um ihn für immer zu bewahren.
„Träum schön“, flüsterte sie, beugte sich hinunter und küsste Penny auf die Wange. Die Kleine bewegte sich im Schlaf, wachte jedoch nicht auf.
Lächelnd ging Laurel hinaus, schloss leise die Tür hinter sich und blieb tief in Gedanken versunken stehen.
Sie würde Penny auf keinen Fall im Stich lassen. Ganz gleich, ob Charles Gray vorhatte, als Kindermädchen eine strenge alte Hexe mit Warzen auf der Nase zu engagieren – sie, Laurel, würde ihm klarmachen, dass niemand besser für diese Aufgabe geeignet war als sie selbst.
Ihr ging es dabei nicht in erster Linie um das Gehalt oder um die Sicherheit, die Gray Manor ihr bot, sondern um Penny. Und wenn Charles seine Tochter auch nur halb so wichtig war, wie er vorgab, dann würde ihm gar nichts anderes übrig bleiben, als Laurel zu behalten.
11. KAPITEL
Charles Gray war kein sturer Mensch. Auch wenn er in letzter Zeit den gegenteiligen Anschein erweckt hatte, war er durchaus in der Lage, eine Situation richtig einzuschätzen – sogar wenn es um seine Tochter und um Laurel Midland ging.
Das Problem war nur: Laurel richtete in seinem Innern ein so heilloses Durcheinander an, dass es ihm schwerfiel, einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch er konnte es!
Charles war natürlich aufgefallen, dass seine Tochter Laurel schon sehr ins Herz geschlossen hatte. Er wusste, wie schwer sie Vertrauen zu jemandem fasste – und auch, von wem sie diese Eigenschaft hatte.
Laurel war das natürlich ebenfalls nicht entgangen. Sie hatte darauf hingewiesen, dass Penny sich ihr immer mehr öffnete. Dabei wusste sie noch nicht einmal, dass die Kleine ihren letzten drei Kindermädchen die kalte Schulter gezeigt hatte.
Unhöflich war seine Tochter dabei nie gewesen, aber wenn sie sich jemandem gegenüber unsicher fühlte, dann war sie so befangen, dass sie fast nichts sagte und sogar kaum auf einfache Fragen antwortete.
Gegenüber Laurel hatte sie jedoch keine dieser Verhaltensweisen gezeigt. Im Gegenteil: Penny schien ihr alles anzuvertrauen – von Berichten über ihre neuen Freundinnen bis hin zu Schulangelegenheiten und vielleicht noch viel mehr als das. Mit anderen Worten: Seine Tochter blühte förmlich auf. Wenn er ihr Laurel jetzt wegnähme, würde das sehr schmerzlich für sie sein. Und sie hatte schon genug Leid erfahren.
So unmöglich Laurel auch war, so eigensinnig, besserwisserisch und unverfroren – Charles blieb nichts anderes übrig, als sie zu behalten. Im Notfall
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