JULIA EXTRA BAND 0273
Immer wieder sah sie zur Tür, als erwarte sie, dass im nächsten Moment ein Ungeheuer hereinspaziert käme.
Bei ihrer Runde durch das Haus fielen Daniel die teuren Gemälde und Skulpturen auf. Im Gegensatz zu Stephanies modernen Werken handelte es sich bei allen Bildern um Klassiker. Als Stephanies Blick auf die Bilder fiel, zitterte sie.
Auf dem Kamin stand die gerahmte Fotografie einer schönen rothaarigen Frau.
„Meine Mutter.“
Daniel trat näher und sah über ihre Schulter. „Du siehst aus wie sie.“
„Ein bisschen vielleicht. Randolph meinte, ich gleiche eher meinem nichtsnutzigen Vater.“
„Wie wir wissen, war Randolph ein unübertroffener Dummkopf.“ Zorn schwang in seinen Worten mit. Daniel wünschte sich von ganzem Herzen, Randolph Ellison wäre noch am Leben, damit er ihn persönlich für alles büßen lassen könnte, was er Stephanie angetan hatte.
Das Foto an die Brust gedrückt, setzte Stephanie ihren Weg durch das Haus fort, und Daniel folgte ihr.
Nachdem sie durch mehrere Räume gegangen waren, gelangten sie an eine Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Stephanie schwieg. Langsam gingen sie hinauf.
„Oben sind fünf Schlafzimmer“, erklärte sie hölzern. „Jedes mit einem eigenen Bad. Was für eine Verschwendung für so eine kleine Familie.“
Sie betraten jedes Zimmer, und Daniel bemerkte, dass je ein Balkon auf den riesigen Garten hinausging.
„Und was ist ganz oben?“, fragte Daniel, als sie vor einer weiteren Treppe standen.
Sie zögerte. „Noch ein Schlafzimmer. Meins.“
„Du hast ganz allein da oben geschlafen?“
„Ja. Und es gab nur einen Weg nach unten, direkt am Hauptschlafzimmer vorbei. So konnte Randolph sicher sein, dass ich nicht floh.“
Daniel verkniff sich eine wütende Bemerkung. Die arme, reiche kleine Stephanie. Allein in ihrem Elfenbeinturm, hilflos einem Verrückten ausgeliefert.
Einen langen Moment stand sie einfach da, dann legte sie die Fotografie ihrer Mutter auf die unterste Stufe und schritt hinauf wie eine Königin zu ihrer Hinrichtung.
Mit einem Mal wollte Daniel nicht mehr, dass sie hinaufging. Er könnte diese schwere Aufgabe für sie übernehmen, ihr diese Last abnehmen.
„Stephanie?“, rief er, als sie die Kirschholztür aufstieß und hineinging.
Rasch lief er ihr nach, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie stand mitten im Raum und zitterte am ganzen Leibe. Ihre Brust hob und senkte sich in panischem Entsetzen.
Da begriff Daniel. Dies war der Ort ihrer Peinigung gewesen.
Er berührte ihren Ellbogen. „Liebling …“
Sie wich vor ihm zurück.
„Warum?“, fragte sie so verzweifelt, dass Daniels Knie zitterten.
„Warum hast du mir wehgetan? Ich war doch nur ein kleines Mädchen.“
Wie in Trance wanderte sie durch den Raum und wimmerte leise vor sich hin. Vor dem Himmelbett fiel sie auf die Knie.
Dann hob sie abrupt den Kopf und schrie: „Ich hasse dich. Ich hasse dich! Hörst du mich, du herzloses Monster? Ich bin froh, dass du tot bist. Du hattest kein Recht, mir so wehzutun!“
Daniel stand ruhig da. Sein Hals schmerzte vor ungeweinten Tränen.
Stephanie zitterte am ganzen Leib und schrie sich den jahrelang aufgestauten Kummer von der Seele. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, und Tränen rannen über ihre Wangen. Allmählich wurde ihre Stimme heiser, und sie verstummte.
Ihr Körper sackte in sich zusammen, und Daniel lief zu ihr, kniete sich neben sie und hielt sie fest.
„Ruhig“, beschwichtigte er sie sanft. „Er kann dir nie wieder wehtun. Nie wieder.“
„Daniel?“
„Ich bin hier, Liebes. Alles wird gut.“
„Er ist tot, nicht wahr? Er ist wirklich tot.“
„Ja, Liebes. Ja.“
„Ich bin so froh.“ Ihre schönen Augen waren rotgerändert. „Oh, Daniel. Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich mich freue, dass er tot ist.“
„Dann bin ich noch ein schlechterer Mensch. Ich wollte, er lebte noch. Dann könnte ich ihn eigenhändig umbringen.“
„Daniel“, flüsterte sie und berührte seine Wange. „Du weinst ja.“
Er weinte? Eine Woge aus Liebe, Zorn und Schmerz rollte über ihn hinweg. Jetzt wusste er mit Sicherheit, dass er ein Herz hatte, das wegen Stephanies Leid gebrochen war.
Heftig zog er sie an sich und hielt sie an seine Brust gedrückt. Wie lange sie so dasaßen, wussten sie später nicht mehr. Irgendwann hörte Stephanie auf zu zittern.
„Besser?“
Sie nickte. „Viel besser.“
Und dann trocknete ihm seine starke mutige Frau die Tränen und lächelte.
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