JULIA EXTRA Band 0281
gut!
Stattdessen verließ sie leise das Zimmer. Sie hängte ihren Mantel in die Garderobe und ging in den hinteren Teil des Hauses. Ein kleines Wohnzimmer lag direkt vor der Küche; das Badezimmer dahinter. Vi war in der Küche und bereitete gerade ihre spätabendliche Tasse Tee vor.
„Hallo, meine Liebe“, begrüßte sie sie überrascht, als Clare eintrat. „Du bist früher zurück als angekündigt.“
Clare zwang sich ein Lächeln auf das Gesicht. „Ja, ich dachte auch, es würde später werden“, erwiderte sie. Dabei beließ sie es auch, denn mehr konnte sie im Moment nicht sagen. Stattdessen fragte sie: „Wie war es mit Joey? Wie ich sehe, ist er völlig erledigt.“
Auf Vis faltigem Gesicht zeigte sich das gewohnte Lächeln. „Ach, er hat sich nicht gerührt. Mach dir um ihn nur keine Sorgen. Setz dich und trink eine Tasse Tee mit mir, bevor du ihn nach oben bringst.“
Clare ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Vis Sessel stand näher am Fernseher. Daneben befand sich ein kleiner Tisch, auf dem eine Lampe Platz hatte. Das Zimmer war altmodisch, aber gemütlich eingerichtet, so wie das ganze Haus. Aber Vi wohnte ja auch schon seit über dreißig Jahren hier.
Damals, vor vier Jahren, war es für Clare eine Zuflucht gewesen. Nachdem das von ihr so erhoffte Leben wie Sand zwischen ihren Fingern zerronnen war, waren die ersten Monate die Hölle gewesen. Auch wenn sie obdachlos gewesen war, mittellos war sie nicht. Nach dem Tod ihres Vaters war ihr für ihre Wohnung ein Angebot gemacht worden, das sie nicht hatte ausschlagen können. Den Erlös hatte sie zwar auf ein Konto einbezahlt, hatte sich aber damals einfach nicht aufraffen können, ihr gesamtes Leben neu zu ordnen.
Sie driftete hin und her, wusste aber, dass das Geld auf der Bank ihr finanzielles Polster war. Als ihr dann klar wurde, dass sie das Leben einer alleinerziehenden Mutter würde führen müssen, hatte sie einiges zu regeln. Tausend Fragen stellten sich ihr: Wenn sie sich von dem Geld eine Wohnung kaufte, selbst eine noch so kleine, wovon sollten sie dann leben, sie und ihr Baby?
Die Antwort auf diese Fragen war eine Wohltätigkeitsorganisation, die alleinerziehende Mütter unterstützte. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Kontakt zu älteren Menschen herzustellen, die jemanden brauchten, um weiter unabhängig im eigenen Haus leben zu können. So war Clare der älteren Vi vorgestellt worden. Sie hatten sich auf Anhieb gemocht.
Also war sie in Vis altmodisches Reihenhäuschen gezogen, das in einer ruhigen, dafür aber sicheren Gegend im Westen Londons lag. Das Geld auf der Bank erzielte ein bescheidenes Einkommen, mit dem sie das Alltägliche gut meistern konnte. Für Urlaub und anderen Luxus reichte es aber nicht. Statt Miete zu bezahlen, kümmerte sie sich um Vi. Sie führte ihr den Haushalt und leistete ihr Gesellschaft. Jetzt, vier Jahre später, gehörte Vi zur Familie. Für Joey war sie die Großmutter, die ihn vergötterte und verwöhnte. Für sie selbst war sie eine freundliche, stärkende Stütze.
„Bitte schön, meine Liebe“, sagte Vi, als sie das Zimmer mit zwei Tassen Tee in den Händen betrat. Clare nahm die Tassen an sich, setzte ihre ab und stellte Vis Tasse auf den kleinen Tisch, während sich die alte Dame in ihrem Sessel niederließ.
„Du wirkst angespannt“, bemerkte Vi beiläufig. „War sehr viel los?“
„Ja“, antwortete Clare. Verzweifelt versuchte sie, ganz normal zu klingen und sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte Vi nicht beunruhigen. Weder damit, dass sie ihren Job hingeschmissen hatte, noch damit, dass etwas viel Schlimmeres vorgefallen war.
Nein! Sie durfte nicht daran denken. Sie musste sich beherrschen. Ebenso wie sie es in den ersten, furchtbaren Monaten getan hatte. Und dann wieder, als man ihr Joey nach der Geburt in die Arme gelegt hatte und ihr erst bewusst geworden war, welche schwerwiegende Entscheidung sie getroffen hatte.
Aber es war die richtige Entscheidung gewesen.
„Du brauchst jetzt nur eines, meine Liebe“, hörte sie Vi sagen „Ein wohltuendes Fußbad. Meine Großmutter sagte immer, man muss auf seine Füße achten. Ihren Füßen ging es sehr schlecht …“
Clare lächelte abwesend, nippte an ihrem heißen Tee und ließ sie weiterplaudern. Ihre Freundin Vi war noch immer sehr scharfsinnig, und sie hatte gerne jemanden um sich, mit dem sie klatschen oder sich einfach nur unterhalten konnte. Heute Abend fiel es Clare jedoch schwer, sich auf Vi
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